Über uns


In einer Welt voller Elend und Ungerechtigkeit soll eine Gemeinschaft entstehen, in der von der Gesellschaft längst fallengelassene Menschen Hoffnung und neuen Lebenssinn finden und in Harmonie zusammenleben können. Verstossene und verwaiste Kinder sollen in der Pflegefamilie Liebe, Fürsorge und Geborgenheit erfahren, eine Schule besuchen und sich ihren Fähigkeiten entsprechend entwickeln können. Suchtkranke, missbrauchte und misshandelte Kinder sollen erfolgreich rehabilitiert und wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden.


Island Kids Philippines setzt sich seit 2007 nachhaltig und mit Nächstenliebe für diese Vision sowie für schwerkranke Menschen aus ärmsten Verhältnissen ein. Als Initiant des Hilfswerkes will ich interessierten Menschen Einblick in unsere tägliche Arbeit und die damit verbundenen Probleme, Schicksalsschläge, Erfolge und Glücksmomente geben - ich will Sie an unserer Geschichte teilhaben lassen.




Für ausführliche Informationen besuchen Sie unsere Homepage

Tuesday, December 27, 2011

Eine Woche nach Washi

In Cagayan sind wir seit Tag eins nach dem Sturm mit dem Verteilen von Hilfsgütern beschäftigt. Island Kids Philippines setzt freie Spendengelder, das heisst Spenden die nicht zweckgebunden sind, zur Soforthilfe in den Katastrophengebieten ein. Wir ziehen es auch in Erwägung, später einen Beitrag zum Wiederaufbau von einfachen Häusern für Betroffene der ärmsten Bevölkerungsschicht zu leisten. In mehreren Verteilaktionen konnten wir bis dato Hilfsgüter an insgesamt 1‘769 betroffene Familien verteilen. Abgegeben werden von IKP Esswaren, Kleider, Kochtöpfe, Teller, Becher, Löffel, Decken, Liegematten, Moskitonetze, Seifen, Waschmittel, Zahnbürsten und Zahnpaste. Bei unseren „Relief Operations“ arbeiten wir jeweils eng mit den Verantwortlichen der Evakuationscentren oder den jeweiligen Zuständigen der betroffenen Gebiete, darunter auch mit Polizeiangehörigen,  zusammen. An Heiligabend, konnten wir 400 Hilfspakete mit jeweils 1 Moskitonetz (Familiengrösse), 1 Seife, 1 Päckchen Waschpulver für Kleidung, 3 Zahnbürsten und 3 Sachets mit Zahnpaste an insgesamt 400 Familien verteilen. 329 dieser Pakete wurden im Zeltlager von Tibasak und der Rest an Familien ausserhalb des Lagers verteilt - jede Familie im Lager konnte berücksichtigt werden. Die Verteilung erfolgte von Zelt zu Zelt, wobei wie gehabt Listen geführt wurden. Tibasak ist eine der am schlimmsten betroffenen Gegenden in Cagayan de Oro.

Die Viertel Tibasak (vorne) und Kala-Kala (hinten) nach der Flut 

Tibasak (vorne) und Balulang (hinten) nach der Flut

Zeltlager von Tibasak
Ganze Quartiere wurden hier von den gewaltigen Wassermassen regelrecht weggewalzt. In unmittelbarer Nähe des Lagers, welches an ein Flüchtlingscamp erinnert, werden immer noch 50 Menschen vermisst. Noch nie in meinem Leben habe ich etwas Derartiges gesehen. Das Quartier vor dem Evakuationscamp war ein gemischtes Wohnquartier, in welchem Angehörige der Arbeiterklasse, Städtische Mitarbeiter sowie Slumbewohner gelebt haben - letztere lebten direkt am Flussufer. Als wir zusammen mit Jugendlichen des Camps durch das weggespülte Quartier beim Fluss liefen, kam uns immer wieder dieser unverwechselbare, süsslich modernde Gestank von verwesenden Tierkadavern und von Menschenleichen, die man selbst eine Woche nach dem Unwetter noch nicht bergen konnte, entgegen. Hier hatten die Wassermassen auf einer Fläche von rund 2 Hektaren alles zerstört und keinen Zementblock auf dem anderen belassen. Hie und da sahen wir eine freistehende Toilettenschüssel eines besseren Hauses, ein Plattenboden eines Fundamentes oder ein liegender Betonstrommast. Autos, Haushaltsgegenstände oder persönliche Gegenstände waren keine zu sehen – meterhohe Schlammberge. Überlebende sprechen von Sekunden, in denen die Wasserwalze ihre Häuser überrollt habe. Der Brei aus Wasser, Steinen, ganzen Bäumen und Schlamm sei nicht fliessend sondern rollend über das ganze Quartier gefegt. Überlebt hätten nur jene, die es auf die Dächer der vereinzelt stehengebliebenen Häuser beim Quartiereingang, rund  300 Meter vom Flussufer entfernt, geschafft hätten. Selbst dort sei das Wasser bis zum Dach angestiegen und sie alle hätten Todesängste ausgestanden. Einige seien auf Strommasten oder auf Bäume geklettert, es sei jedoch kein Baum und kein Mast stehen geblieben. Zehnjährige Mädchen erzählten uns, wie sie überleben konnten und wie Verwandte und Nachbarn den Tod gefunden haben. „Kurz bevor ihr angekommen seid, haben sie meinen zehnjährigen Nachbarn gefunden. Er lag unter einem Baum, und als sie ihn hervorziehen wollten, ist ihm der Arm abgefallen“, erzählte eines der Mädchen. Ihr vierjähriger Cousin sei auch umgekommen.  Dieser sei ganz gelb gewesen, habe einen riesigen Bauch gehabt und extrem stark gestunken, wusste ein anderes zu berichten. In einem anderen Lager hatte uns ein älteres Ehepaar berichtet, wie sie auf eine Kokospalme geklettert seien und dort in der Baumkrone bis zum Morgen ausgeharrt hätten. Der Baum sei stark hin und her gependelt, und um sie herum seien gleiche Bäume mit Menschen beladen von den Fluten mitgerissen worden. Sie hätten viele Schreie gehört, diese seien jedoch nach wenigen Sekunden abrupt verstummt.  Ich blickte den Mann und seine gebrechliche Frau an und stellte mir die Frage, wie dieses alte Paar es auf Baumkrone geschafft hatte…….


Akasya Street Brgy. Carmen (nahe Stadtzentrum)
Im Flussdelta des Cagayan Rivers befindet sich eine Insel, auf welcher sich einst ein Armenviertel befand, geblieben ist eine kleine Sandbank. Während bereits über 1000 Tote geborgen werden konnten, werden immer noch mindestens 1100 Menschen vermisst. Es war das schlimmste Unwetter, das diese Region je gesehen hat. Die Stadt hat auch nach einer Woche noch kein fliessendes Wasser. Als Evakuationscenter werden zum grössten Teil noch die öffentlichen Schulen genutzt. Diese sind total überfüllt und die Hygieneverhältnisse sind prekär. In einer Woche sind die Schulferien vorbei, was dann mit den zehntausenden Obdachlosen in den Schulgebäuden geschehen soll, ist noch nicht klar.
Evakuationscenter City-West-School
Es gibt aber auch immer wieder glückliche Momente, wie etwa am Tag drei nach dem Sturm, als Überlebende vor den Küsten der Inseln Bohol und Siquihor gesichtet wurden. Sie hatten die Flut wie durch ein Wunder überlebt und wurden auf Kühlschränken, Bäumen usw. weit aufs Meer hinausgetrieben. Oder ein junges Mädchen, das vom Familienhund gerettet werden konnte, bevor dieser erschöpft ertrank. Was uns alle beeindruckt, ist die Art und Weise, wie die Betroffenen ihre Schicksale annehmen. Kaum jemand klagt, immer wieder hören wir den Satz: „bahala ang Balay, bahala mga Gamits, basta buhi pa“, was etwa so viel bedeutet wie, „vergiss unser Haus, vergiss unsere Gegenstände, wichtig ist, dass wir leben.“  Wo man auch hinkommt, ist man willkommen; die Betroffenen berichten offen über ihre traumatischen Erlebnisse, sie zeigen einem wo ihr Haus einmal stand, wo sie sich in Sicherheit bringen konnten und berichten, wer von ihrer Familie oder von ihren Nachbarn weniger Glück hatte. Viele bedanken sich für die abgegebenen Gegenstände und laden einem gar ein, von ihrer Notration zu essen. An Heiligabend wurde trotz allem Weihnachten gefeiert. Betroffene sassen in den Ruinen ihrer Häuser, mit Kerzen als einzige Lichtquellen in den stockfinsteren Stadtteilen, die Geisterstädten gleichen, und mit den abgegebenen Mahlzeiten als Festtagsschmaus. Vereinzelt wurden von der Flut verschonte Schweine geschlachtet und auf dem offenen Feuer als Spanferkel gebraten. Kinder und Jugendliche spielen trotz ihrer traumatischen Erlebnisse ausgelassen miteinander, was ihnen beim Verarbeiten der traumatischen Erlebnisse hilft. Eine Gruppe von Kindern fragte mich, ob ich nach dem Verteilen der Hilfsgüter noch mit ihnen spielen wolle – es kommt einem so vor, als ob die Kinder die Evakuationslager als Pfadilager betrachten. Bei den Verteilaktionen kommt es kaum zu Streitigkeiten oder Gedränge. Die Menschen organisieren sich meistens gleich selber, stehen in eine Reihe an und bewahren die nötige Geduld. Trotz widrigster Umstände nimmt man das Schicksal an, beklagt sich kaum und versucht stets, das Positive zu sehen - bewundernswert. Menschen, die nichts mehr haben, sagen immer wieder: „dann fangen wir eben wieder bei null an, Hauptsache wir leben noch“ – für Letzteres bedanken sich viele bei Gott.


Thursday, September 29, 2011

Ende der Bauarbeiten

Wir haben unser Monatsbudget überschritten und sehen uns seit gestern mit einem leeren Konto konfrontiert. Dies hat einerseits mit unseren Patienten und andererseits mit den Umbauarbeiten im Center zu tun. Wir haben in unserer Galerie einen Boden und Wände eingesetzt und so zwei neue Klassenzimmer, eins im Parterre und eins im Obergeschoss, geschaffen. Damit ist der Platz im Center nun vollständig ausgenutzt. Dies gibt den LehrerInnen und SchülerInnen den längst ersehnten zusätzlichen Raum, der für die neue Anzahl Kinder dringend nötig wurde. Zudem erhalten unsere Sozialarbeiterinnen nun ebenfalls ihre dringend benötigten Arbeitsplätze. Auch können wir jetzt endlich unsere permanente Nähwerkstatt einrichten und mit der erneuten Produktion der Taschen aus Wertstoffen beginnen. Virgie hat bei den Bauarbeiten einmal mehr Gas gegeben, gut geplant und zuverlässige Handwerker engagiert. Jetzt wird es auch im Center wieder etwas ruhiger werden.

Wednesday, September 28, 2011

Tetanus!

Als ich gestern zu schreiben begonnen hatte, setzte sich Jeb, einer unserer älteren Jungs, neben mich. Während ich mich auf den Bildschirm und das Schreiben konzentrierte, meinte er, beinahe beiläufig, dass sein kleiner Cousin krank sei. Ich hörte mit einem Ohr zu und fragte nach, was seinem Cousin den fehle. Jeb antwortete darauf: „Er kann seinen Mund nicht mehr öffnen Kuya Thom“. Jetzt hörte auch mein anderes Ohr zu, und ich fragte mit einer gewissen Unmut in meiner Stimme, ob sich sein Cousin noch bewegen könne und ob er Krampfattacken habe. Darauf antwortete Jeb mit: „Nein, nicht so sehr, sein ganzer Körper ist versteift und manchmal hat er Atemnot“. Sekunden später liefen Jeb und ich in Richtung Mülldeponie. Während wir mit schnellen Schritten über Berge von Abfall liefen, kamen in mir Erinnerungen an Roderick, einen Jungen, den wir im August 2010 im Spital unterstützt hatten, auf. Roderick war damals an einer Tetanusinfektion erkrankt und starb nach einer Woche Intensivstation (Newsletter August 2010). IKP hatte nach dem tragischen Tod von Roderick mit seinem Tetanusimpfprogram  bei der Mülldeponie begonnen, wodurch unterdessen mehr als 300 Kinder und Jugendliche gegen Tetanus geimpft werden konnten.

Die Hütte der Familie Lagrosas befindet sich im hintersten Teil der Deponie, in einer kleinen Siedlung von etwa sechs Familien. Der fünfjährige Renante war, wie Jeb berichtet hatte, am ganzen Körper steif und konnte seinen Mund nicht mehr öffnen. Er wollte auch nichts mehr trinken, was auf eine Hydrophobie hinwies. Tetanus war bereits seit unserem Gespräch im Center in meinem Kopf, und diese Annahme wurde nun immer wahrscheinlicher. Ich fragte die Mutter, ob Renante kürzlich eine Fleischwunde gehabt habe und ob er jemals geimpft worden sei. Sie erklärte mir, dass ihr Sohn vor rund zwei Wochen einen grossen Holzsplitter im Fuss gehabt habe und er – wie auch der Rest der Familie - nie geimpft worden sei. Renante war bereits seit sechs Tagen krank, seine Muskelverkrampfungsanfälle häuften sich,  und er hatte jetzt Atemschwierigkeiten, was die Situation zusätzlich erschwerte. Der Vater wollte ihn zu einem „Hilot“, einem traditionellen Masseur bringen, was noch zusätzlich Öl ins Feuer gegossen hätte. Ich erklärte der Familie, wie schlimm es kommen könnte und dass Renante auf dem schnellsten Weg ins Spital gebracht werden müsse. Pascal holte uns mit dem Pick-up beim Deponieeingang ab und danach ging es schleunigst ins Provincial Hospital (NMMC). Das Warten dort, ein einziger Nervenkitzel. Notfälle stehen Schlange, Patienten werden auf Matten am Boden mit durch die Angehörigen selbst betätigten Beatmungsbeuteln beatmet und die Ärzte tun, was sie können; sie behandeln zahlreiche Patienten gleichzeitig und müssen zahlreiche Notfälle lange warten lassen. Es geht zu und her wie in einem Bienenhaus und das Lärmniveau ist hoch. Wenn man lange genug im Notfall warten muss, sieht man manchmal einzelne - und manchmal auch mehrere Menschen - sterben. Oft sind Angehörige bereits seit einer Weile leise am Wimmern, geht das Wimmern dann in ein Weinen oder gar emotionales Schreien über, geht es nicht mehr lange, bis der Patient mit einem Tuch bedeckt nach draussen, in einen Abstellraum hinter dem Spital gebracht wird. Der Notfall hat keine Trennwände, alles ist live, hier wird einem schreienden Kind ein Katheter gesteckt, da stossen ein Arzt und eine Krankenschwester mit etwas Mühe den Knochen eines offenen Schienbeinbruchs ins Gewebe zurück, während Angehörige versuchen den sichtlich leidenden Patienten auf dem Bett zu fixieren, und etwas weiter drüben ist ein älterer, mit dem Beatmungsbeutel beatmeter Mann in seinen letzten Zügen. Die Ärzte und das Pflegepersonal brauchen hier starke Nerven.

Tuesday, September 27, 2011

Geheilt

Gestern konnte Shyrille auf die normale Bettenstation verlegt werden, und gerade eben habe ich erfahren, dass sie das Spital heute verlassen kann. Die Familie hat ihr Schwein verkauft, die staatliche Krankenkasse nachträglich eingerichtet mit etwas Unterstützung zwei Bettelbriefe an Politiker verfasst und die Antragsformulare für den Lotteriefonds (PCSO) ausgefüllt. Der Lotteriefonds hat der Unterstützung zugestimmt und sich immerhin mit PHP 10‘000.- oder zirka CHF 200.- an der Behandlung beteiligt.

Monday, September 26, 2011

Kraft des Gebetes

Heute Abend hatten wir mit den LehrerInnen „Prayer-Meeting“. Die Lehrkräfte beten jeden Montagabend zusammen, und da ich jetzt mit meinen zwei Donnerstagnachmittagsklassen ebenfalls so eine Art Amateurlehrer bin, bete ich, wann immer es geht, mit. Es war einmal mehr sehr emotional und Tränen flossen wie Bäche. Es ist nicht einfach, unsere Art von Kids zu unterrichten. Jeden Tag fehlen mehrere Schüler, die wir jeweils einzusammeln versuchen, ein paar der Kids haben wieder mit Klebstoffschnüffeln angefangen und drohen abzustürzen. Viele haben Mühe, sich im Unterricht zu konzentrieren, die pubertierenden Mädchen drohen schwanger zu werden usw. Wir beteten für die rund zehn Prozent der Kids, die uns tatsächlich grösste Mühe bereiten. Wir beteten auch für unsere Sponsoren, unser wichtiges Team in der Schweiz, für die Lehrkräfte, die Sozialarbeiterinnen, die Mitarbeiterinnen aus der Community, die total ausgelastete und bewundernswerte Virgie, für unsere Volontäre und für mich, dass ich meiner Aufgabe besser gerecht werden kann und mir der Spagat zwischen hier und IKP-Schweiz besser gelingen möge. Ich nehme mir stets vor, mehr Zeit ins Fundraising zu investieren, ertappe mich dann jedoch immer wieder beim Herausschieben dieser so elementar wichtigen Aufgabe. Was wollen wir ohne Geld anfangen? Auch meine Tränen flossen wie Bäche. Es war seit langem wieder das erste Mal, dass ich Gott mein Herz ausschütten konnte, einfach loslassen, alle Fehler eingestehen, um Vergebung und um Führung bitten. Sich seine Schwächen ganz eingestehen und gleichzeitig auf den vertrauen, der uns soweit gebracht hat und der uns auch in Zukunft nicht im Stich lassen wird. Ich betete auch dafür, dass wir nie ein schwerkrankes Kind aus Geldmangel seinem Schicksaal überlassen müssen.

Saturday, September 24, 2011

Gebet am Spitalbett

Nach Shyrille folgten letzte Woche einmal mehr die acht Monate junge Jillian mit Lungenentzündung und neu der einmonatige Joshua mit einer Hirnblutung. In sämtlichen Fällen versuchen wir, möglichst alle lokalen Quellen sowie die geringen Mittel der Familienangehörigen selbst auszuschöpfen. Dies bedeutet für unsere Sozialarbeiterinnen und unsere Medical-Staff viel Arbeit. Ich besuche die Patienten meistens abends, wenn der Betrieb im Center eingestellt ist und die Kinder bereits zuhause sind. Ich spreche mit den Ärzten, hole Informationen zu Heilungsprognosen und wahrscheinlichen Kosten ein und erkundige mich, ob die Medikamente komplett sind. In oft sehr emotionalen Gesprächen versuche ich, die Angehörigen zu ermutigen und ihnen weitere Möglichkeiten und Hilfsangebote aufzuzeigen. Inzwischen bin ich oft auch sehr streng, insbesondere dann, wenn gegenseitige Vereinbarungen nicht eingehalten werden. Die von uns unterstützten Menschen sind häufig in einer Art Ohnmacht gefangen. Je niedriger das Bildungsniveau, desto weniger selbstsicher sind sie im Umgang mit Behörden, Spitalangestellten usw. Dies geht soweit, dass sie, anstatt beim Sozialamt und den Politikern um Hilfe zu bitten, einfach resignieren und das Sterben ihres eignen Kindes mit einer für uns schier unvorstellbaren Apathie hinnehmen. Oft ist es auch Stolz, der sie daran hindert, sich um die dringend benötigte Hilfe zu bemühen. Diese Ketten der Passivität gilt es zu sprengen, was damit beginnt, den Menschen ihr eigenes Selbstwertgefühl zurückzugeben, ihre längst verschlossenen Augen zu öffnen, sie im Glauben zu stärken und ihnen Liebe und Vertrauen zu vermitteln. Ebenso gehört aber auch das Rügen von nichteingehaltenen Abmachungen und fehlerhaftem Verhalten sowie  das Aufklären und Lehren dazu. Als ich heute mit Juvy, der Mutter von Shyrille, sprach, musste ich sie zuerst rügen, denn sie hatte keine unserer zuvor getroffenen Abmachungen eingehalten. Ich sagte ihr, dass IKP nicht sämtliche Kosten tragen könne und das Leben ihrer Tochter in ihrer Hand sei. Sie erwiderte, dass sie sich schäme zum Stadtpräsidenten zu gehen. Ich erwiderte, „was ist dir wichtiger, dich nicht schämen zu müssen oder das Leben deiner Tochter? Schau dir Shyrille an, sie ist ein wunderschönes, einzigartiges und wertvolles Kind Gottes, das mit all seinen Kräften um sein Leben kämpft. Shyrille braucht dich und deinen Mann jetzt mehr denn je zuvor. Kannst auch du für sie kämpfen?“ Die Mutter weinte und bat mich zu beten. Wir beteten zusammen für Shyrille und sangen „Ikaw ang kusog kanako“ (du bist meine Kraft). Danach setzten wir in Besayan einen einfachen Bittbrief an den Stadtpräsidenten und an den Kongressmann auf. Juvy fragte mich schliesslich, ob sie jemand begleiten könne, wenn sie am nächsten Tag den Brief überbringen würde. Ich versprach ihr, dass eine unserer Sozialarbeiterinnen mit ihr gehen werde.

Die Bootschaft ist einfach: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Wenn man Leben von Menschen transformieren will, braucht man Strategien und man muss Ziele haben, wissen, wo man mit diesen Menschen einmal ankommen will. Vor allem aber muss man sich die Namen dieser Menschen tief ins Herz schreiben und die Liebe ihnen gegenüber in sich wachsen lassen. In einem jedem Menschen – ganz egal, was dieser getan hat oder tut – eine wertvolle Schöpfung Gottes sehen, nicht den Menschen verurteilen, sondern lediglich seine Taten beurteilen und versuchen, sein Handeln positiv zu beeinflussen, das ist die Grundvoraussetzung für echte Transformation. Nächstenliebe ist der Schlüssel zu den Herzen aller Menschen, und ist man dort einmal angekommen, kann man Vertrauen aufbauen und positiven Einfluss ausüben. Liebe ist die Hauptzutat zu jedem guten Rezept. Am meisten fällt einem dies beim Umgang mit den Kindern auf. Unsere Kids mussten in ihren Leben längst zu viele Schicksalsschläge hinnehmen; ihnen braucht man nichts mehr vorzumachen. Das Einzige, was sie bewegen und motivieren kann, ist eine auf wahrer Nächstenliebe basierende Beziehung. Viele unserer Kinder gehen nicht zur Schule, weil Bildung wichtig ist für ihre Zukunft, sie kommen in unser Center und besuchen den Unterricht, weil sie dort Liebe, Geborgenheit und Verständnis finden. Sie sind bei uns, weil wir sie lieben und weil wir sie lieben, geben wir sie trotz Rückschlägen nicht auf. Fehlen ihnen eben diese Attribute, so ziehen es manche gar vor, auf der Strasse zu leben und Klebstoff zu schnüffeln. Eine enge Beziehung zu sämtlichen Kindern aufbauen und vor allem auch pflegen zu können, ist wohl unsere grösste Herausforderung, an welcher wir tagtäglich arbeiten.

Die Community organisiert sich

Heute war ein ganz besonderer Tag. Man konnte richtig fühlen, wie uns ein Durchbruch gelungen ist. Die Lehrkräfte hatten einen Plauschtag am Strand organisiert. Eingeladen waren jedoch diesmal nicht etwa Kinder und Jugendliche, sondern die Eltern unserer Kids. Der Anlass verfolgte zwei Hauptziele. Erstens, die LehrerInnen und die Eltern einander näher bringen und zweitens die Beschlussfassung für die Gründung einer Kooperative der Wertstoffsammler. Seit zwei Monaten gibt es die IKP-Parents-Teachers-Association (Eltern-Lehrer-Vereinigung). Zweck dieser Vereinigung ist die engere Zusammenarbeit von IKP und den Erwachsenen unserer Community sowie mehr Gewicht für die oft überhörten Stimmen unserer Familien. Wir wollen vor den Lokalpolitikern und vor den die Armen ausbeutenden „Kapitalisten“ im Viertel eine vereinte Stimme werden. Die als nächster Schritt geplante Kooperative soll dem erdrückenden und ausbeutenden Zwischenhandel der Junkshop-Besitzer entgegenhalten. Mit anderen Worten, die Wertstoffsammler sollen ihre Wertstoffe dereinst direkt an die Recyclingfabrik verkaufen können. Ein einzelner Wertstoffsammler kann dies nicht, eine Kooperative jedoch schon. Was den Menschen bis jetzt dafür fehlte, waren das administrative Know-How für die Finanzverwaltung und das notwendige Kapital. Zusammen mit IKP könnte beides möglich werden. Virgie führt seit 17 Jahren mehrere Geschäftszweige in einem grossen Unternehmen, sie ist intelligent und weiss, auf was es beim Business ankommt. Und das Beste, für ihr Management wird sie von den Wertstoffsammlern keinen roten Rappen verlangen. Ein Gratisseminar vom Staat soll die künftigen Mitglieder auf ihre Kooperative vorbereiten. Die Finanzen der künftigen Kooperative sollen von IKP verwaltet werden. Nach dem Umzug der Deponie an ihren neuen Standort wird das Wertstoffsammeln vorerst weitergehen. Die meisten Menschen planen in der Community zu bleiben, ein paar sprechen davon, in die Berge zurückzuziehen und andere wollen der neuen Deponie folgen und sich dort erneut illegal ansiedeln. Die Sukis (Zwischenhändler/Junk-Shop-Owners) wollen die Wertstoffsammler künftig mit ihren LKW’s von der Community zur neuen Deponie führen. Sie werden sich weiterhin an ihnen reichverdienen und die schlechtgebildeten Menschen mit Kleinkrediten zu 20% und mehr Zinsen pro Monat erdrücken. Die Kooperative kann dies ändern. Wenn das Führen der Administration und das Verwalten der Finanzen – zumindest zu Beginn - von IKP übernommen wird, sind die Sukis ersetzt. Was jetzt noch fehlt, ist ein Lagerplatz für die angesammelte Ware und ein Lastwagen für den Transport derselben. Dafür braucht es etwas Startkapital, welches die Wertstoffsammler nicht selber aufbringen können. Wenn der Plan aber gelingt, erhalten die Wertstoffsammler einen wesentlich höheren Preis für ihre mühsam gesammelten Wertstoffe. Die Kooperative macht dann immer noch Gewinn, kann damit ihre Ausrüstung unterhalten, Löhne an die Lastwagenfahrer bezahlen sowie in Notfällen limitierte Kredite zu geringen Zinsen an ihre Mitglieder ausschütten. Die Wertstoffsammler werden dadurch unabhängiger, können ihren Lebensstandard erhöhen und ihr Schicksaal durch die Kooperative selber in die Hand nehmen. Dies, zumindest solange Wertstoffsammeln in Cagayan noch zum gewohnten Bild gehört, was sich wohl nicht so schnell ändern wird.

Beide Ziele des Anlasses erreichten wir. Die Lehrer und die Eltern hatten riesigen Spass, machten Spiele, blödelten zusammen im schmutzigen Meerwasser herum, sangen Karaoke und tanzten zusammen. Virgie und ich kamen erst sehr spät dazu. Wir hielten unsere Reden, oder besser gesagt, versuchten, den Eltern die bereits bekannte Idee ans Herz zu legen und sie von ihren Ängsten zu befreien. Virgie erklärte zuerst wie eine Kooperative funktioniert, welche Vorteile sie bieten kann und wie die künftige Zusammenarbeit von IKP und den Eltern unserer Kids aussehen könnte. Meine Botschaft war einmal mehr, dass wir es nur gemeinsam, mit Gottes Hilfe, ohne negative Hintergedanken und Eifersüchteleien Einzelner und mit Liebe und Respekt füreinander schaffen können. Ich sprach in Visayan und war überrascht davon, wie mir die Worte in den Mund gelegt wurden. Ich wies auf das Know-How von Virgie und unseren professionellen MitarbeiterInnen hin, die sich allesamt tagtäglich uneigennützig und voller Überzeugung für die Familien im Viertel einsetzen, und sich nicht, wie etwa die Kapitalisten der Gegend, an den Armen bereichern, sondern ihnen eine lebenswertere und unabhängigere Zukunft ermöglichen wollen. „Zusammen sind wir stark. Seht, wir haben Lehrerinnen, Sozialarbeiterinnen, und wir haben Virgie, die seit 17 Jahren eine Führungskraft in einem grossen Unternehmen mit unterschiedlichsten Geschäftszweigen ist, sich bestens in den unterschiedlichsten Gewerben auskennt und es dank ihrem Wissen, ihrer Erfahrung und ihrer Weisheit, allem voran aber dank ihrem Herzen und ihrem Gottvertrauen geschafft hat, IKP-Philippines aufzubauen und zu führen. Wir brauchen uns nicht zu fürchten, denn wenn wir, IKP und ihr alle, zusammenhalten und für ein gemeinsames Ziel kämpfen können, dann werden wir dieses Ziel mit Gottes Hilfe auch erreichen.“ Zum Schluss sagte ich: „Wenn ich durch unserer Community gehe, sehe ich so viel Leid und Probleme. Dreck, verschmutzte Luft, Krankheiten und Gewalt sind allgegenwärtig. Ich sehe aber auch die Bewohner, und in euch sehe ich eben wertvolle, einzigartige und liebenswerte Mitmenschen, geschaffen nach dem Ebenbild Gottes. Von Anbeginn war es nicht gedacht, dass wir in Armut, Gewalt und Krankheit leben. Das Paradies war uns gegeben und nach diesem müssen wir stets streben.“ Dann fuhr ich fort: „Und wenn ich all dies sehe, die Menschen und all ihre Probleme, bleibe ich manchmal stehen, schliesse meine Augen und träume vom Paradies auf Erden. Dort sehe ich euch alle wieder. All die wunderbaren und einzigartigen Menschen leben jetzt friedlich miteinander, um ihre Hütten fruchtbare Gärten anstelle von Abfall, frisches Wasser und gesunde Kinder in Schuluniformen und beim Spielen. Alle haben, was sie brauchen und geht es einem von euch schlecht, so kümmern sich die anderen um ihn. Ich bitte euch, öffnet doch eure Augen für das dringend zu Verändernde in unserer Gemeinde, verschliesst sie nicht, sondern lasst uns zusammen nach Wegen für eine bessere Zukunft für uns alle suchen. Resigniert nicht und gebt nicht auf, denn zusammen und mit Gottes Hilfe ist wahrhaftig nichts unmöglich. Zwischendurch haltet inne und verschliesst für kurze Zeit eure Augen, um zu träumen. Träumt vom Paradies auf Erden, denn dort wollen wir hin, und nur wer sein Ziel kennt, kann dieses auch erreichen. Ich liebe euch und ich möchte, dass auch ihr einander alle gegenseitig liebt. Denn Liebe ist das Stärkste, sie ist stärker denn Hass, stärker denn alle Probleme und alle Krankheiten zusammen. Gott ist Liebe.“ Virgie sprach danach noch einmal, diesmal jedoch nicht über das Technische der Kooperative. Sie sprach zum zweiten Mal die Herzen der Zuhörer an, sodass jetzt, nach dem wir beide lange zu den zahlreichen Müttern und Vätern gesprochen hatten, eine Totenstille herrschte – im Wissen, dass unsere Botschaften angekommen waren, drückten wir einander hinter unseren Rücken die Hände.

Wednesday, September 21, 2011

Denguefieber

Nach meinem kurzen und obendrein noch durch Krankheit geprägten CH-Aufenthalt bin ich wieder heil in CDO gelandet. Es tut mir leid, dass ich euch während meinem unangemeldeten Besuch nicht alle sehen konnte. Es sollte ein Überraschungsbesuch werden, bei welchem ich in erster Linie meinen Grossvater an seinem 90. Geburtstag besuchen wollte. Dank Merve konnte ich auf www.kayak.com einen äusserst günstigen, wenn auch etwas umständlichen Flug buchen. Anstatt einem gemütlichen Mittagessen mit meinem Grossvater lag ich also an dessen Jubiläum mit knapp 41° Fieber im Inselspital. Mein sechstägiger Aufenthalt dort war von starken Kopfschmerzen und permanentem Fieber über 40 Grad geprägt. Ich vermutete bereits zu Beginn Denguefieber, was später durch Labortests bestätigt werden konnte. Wir hatten kurz vor meiner Abreise zahlreiche Denguefälle in Cagayan, wobei auch ein betroffenes Kind aus unserer Community von IKP im Spital unterstützt wurde. Dengue ist eine Tropenkrankheit, die durch die tagaktive Tigermücke übertragen wird. Die Krankheit verläuft in den meisten Fällen wie eine schwere Grippe mit sehr hohem Fieber und einer starken Reduktion der Blutplättchen – in meinem Fall sanken letztere von normalen ca. 130‘000 auf 50‘000. Dengue kann sehr gefährlich werden, nämlich dann, wenn der Blutdruck absackt und/oder es zu inneren Blutungen kommt. Bei diesen kritischen Fällen spricht man vom hämorrhagischen Denguefieber, welches durch Schock zum Tode durch Herzstillstand führen kann. Vielleicht ist es Ironie des Schicksals, dass wir in CDO bereits am Tag nach meiner Ankunft mit einem solchen Fall konfrontiert wurden und ich einmal mehr schnell entscheiden musste. Noch nicht ganz erholt von meiner Reise und vom Denguefieber begab ich mich ins City Hospital. Während ich zügig auf den Spitaleingang zulief und mich dabei auf das Display meines Mobiltelefons konzentrierte – ich schrieb der Sozialarbeiterin – stiess mein Kopf unverhofft gegen ein herunterhängendes T-Eisen der Nottreppe. Sogleich wurde es warm auf meiner Stirn und bald lief mir Blut in die Augen. Anstatt die Patientin zu besuchen, musste ich mich somit zuerst selber behandeln lassen. Eine Krankenschwester entfernte das Haar im Bereich der Wunde, wusch das Blut weg, desinfizierte die blutende Stelle und wies mich an, auf den Arzt zu warten. Ich lief stattdessen weg und begab mich auf die Bettenstation, wo die dreijährige Shyrille Reyes im Fieberwahn lag. Ihre Ärztin kannte ich bereits bestens. Sie erklärte der Familie, dass Shyrille jeden Moment sterben könne, da ihr Blutdruck instabil sei und sie an inneren Blutungen leide; beides Anzeichen für ein Dengue-Schock-Syndrom. Shyrille benötigte dringend Intensivpflege, musste sediert und an eine Beatmungsmaschine angeschlossen werden. Nur so würde es möglich sein ihren Blutdruck mit den entsprechenden Medikamenten stabilisieren zu können. Vom Katheter floss rotgefärbter Urin in einen am Bett befestigten, transparenten Beutel. Auch im Stuhl hatte Shyrille Blut, wie uns die Ärztin weiter unterrichtete. Noch während wir ihren Ausführungen folgten, musste Shyrille Blut erbrechen, worauf ihre Mutter verzweifelt in Tränen ausbrach. Ich blieb sachlich, auch wenn es mir das Herz zerriss. Dann nahm ich den Vater mit nach draussen und sprach zu ihm. Ich erklärte ihm die Regeln, dass er bei sämtlichen Angehörigen um Geld betteln müsse, dem Stadtpräsidenten und dem Kongressmann einen Bettelbrief schreiben und mit unserer Hilfe beim Philippinischen Lotteriefond um Unterstützung bitten müsse. Ich erklärte ihm, dass er und seine Frau die Verantwortung für ihre Tochter hätten und wir die Kosten nicht tragen könnten. Es war nicht sicher, ob Shyrille überleben würde. Klar war jedoch, dass Shyrille, wenn nicht umgehend in ein ICU (Intensive Care Unit) verlegt, wohl bald sterben würde. Nachdem die Bedingungen klar waren, rief ich die frühere Ärztin von Varve (Spezialistin für Pedia Critical Care, eine von vier auf ganz Mindanao) an und bat um einen Intensivplatz im Madonnahospital. Zwei Stunden später hing Shyrille sediert an einer Beatmungsmaschine.

Friday, September 2, 2011

Steiler Weg hin zur Transformation

Kürzlich war ich in der Hütte von Rociel Quidlat, einem Mädchen, das mit 14 Jahren schwanger wurde und danach bei uns die Schule abbrach. Rociel war kurz zuvor in unserem Center und bat mich um Hilfe. Jillian, ihre stark unterernährte, fünf Monate junge Tochter, lag mit Lungenentzündung und Atembeschwerden im „Duian“, einer Art Hängematte. Vor der Hütte brannte ein Abfallhaufen, und als ich die Hütte betrat, stand ich in dichtem Qualm, sodass selbst ich husten musste. Die ebenfalls sehr junge Grossmutter schaukelte das Kind hin und her und rauchte dazu Zigaretten. Als ich dies sah, verlor ich einmal mehr die Fassung (Details werde ich hier nicht erläutern). In diesem Moment hätte ich am liebsten gesagt, schaut selber und handelt endlich verantwortungsbewusst. Doch der Anblick des kleinen unschuldigen Kindes und letztendlich auch das Mitleid mit den beiden Frauen liess mir keine andere Wahl, und so verbrachte ich meinen Abend einmal mehr im Spital. Dabei führte ich jedoch ernsthafte Gespräche mit Rociel in Sachen Familienplanung, Verantwortungsbewusstsein und Gesundheitsprävention. Solche Ereignisse sind leider an der Tagesordnung und längst nichts mehr Besonderes. Es ist die Realität und wer in einer solchen Realität aufwächst, ändert sich nicht von einem Tag auf den anderen. Das oft destruktive Verhalten der Slumbewohner ist das Resultat von fehlender Bildung, fehlender Wertschätzung des eigenen Lebens und fehlender Lebensperspektiven. Auf einen Nenner gebracht ist es Armut in allen Lebensbereichen. Dabei wollen wir niemandem, weder dem Staat noch den Armen selbst, die Schuld geben – denn letztendlich sind wir alle daran schuld. Vielmehr wollen wir die Menschen konstruktiv ermutigen und befähigen, ihre Situation aus eigener Initiative und mit eigener Kraft – vielleicht auch mit etwas Hilfe - zu verändern. Es ist nicht unser Ziel, auf immer und ewig „Helfer“ zu bleiben. Die Transformation der Bewohner, allen voran der Kinder in unserem Programm, ist unser Ziel. Die Menschen unserer Community sollen Eigenverantwortung übernehmen, sich selbst helfen und einmal ganz auf eigenen Beinen stehen können. Mädchen und Jungs von der Mülldeponie sollen zu verantwortungsbewussten Eltern, SozialarbeiterInnen, LehrerInnen, Krankenschwestern, Handwerkern usw. heranwachsen und ihren Familien, ihrer ganzen Community und schliesslich anderen bedürftigen Menschen ebenfalls bei deren Transformation helfen. Ganzheitliche und nachhaltige Entwicklungsarbeit. Die Transformation eines ganzen Armenviertels, hin zu einer Gemeinschaft mit einem bescheidenem aber ausreichenden Lebensstandard in einer sauberen, familienfreundlichen Umgebung, ohne Alkohol- und Drogensucht, ohne Kriminalität, ohne Gewalt in der Familie, mit Schulbildung und Chancengleichheit für alle Kinder und Jugendlichen ist ein langer Prozess. Das „Shalom“ der Gemeinschaft, die Harmonie der Menschen untereinander und im Umgang mit ihrer Umgebung beginnt mit dem gemeinsamen Traum, gemeinsamen Zielen und gemeinsamen Taten. Der Weg hin zu dieser positiven Verwandlung ist steil und nicht selten sehr frustrierend. Umso wichtiger ist es, dass unser Team und unsere Kids sowie die Menschen der Community, welche ihre Augen nicht verschliessen sondern die Wahrheit bereits erkannt haben, fest zusammenhalten. Der Glaube daran, dass wir nicht zufälligerweise, jedoch aber als Teil von Gottes Plan in diese Community gekommen sind, gibt uns allen die Kraft, nicht von unseren Zielen abzulassen.

Friday, August 26, 2011

Aufblühen im Tanz


Heute war ein grosser Tag für unsere tanzbegeisterten Kids. Im Rahmen der Woche der Sprachen führten die Schüler unserer öffentlichen Partnerschule Tanzvorstellungen auf. Auch unsere Kids waren eingeladen, ihre zuvor einstudierten Tänze vorzustellen. Die IKP-Kids tanzten mit einer hervorragenden Koordination untereinander und voller Herzblut und Freude. Das Publikum und die Lehrerschaft waren hell begeistert. Ich darf hier mit gutem Gewissen anfügen, dass unsere Kids eindeutig die besten Aufführungen boten. Tanz und Gesang ist für Philippinische Kinder allgemein sehr wichtig. Sie lieben es sich zum Rhythmus der Musik zu bewegen, und ich kenne kaum jemanden in diesen Breitengraden, der es nicht liebt zu singen. Unsere Kids sind dabei keine Ausnahme; viele von ihnen blühen regelrecht auf beim Singen und beim Tanzen und können dabei Erlebnisse verarbeiten und ihr musikalisches Talent entfalten lassen. Sie so tanzen zu sehen gab einem ein richtig gutes Gefühl. Es sind diese Momente, die einem für kurze Zeit die täglichen Sorgen vergessen lassen und einem daran erinnern, was wir mit den Kids schon alles erreicht haben und noch erreichen können.


Wednesday, August 10, 2011

Tägliche Sorgen

Mit einem Teil der Kids haben wir immer wieder grosse Schwierigkeiten. Wir kämpfen täglich gegen Versuchungen wie Alkohol- und Klebstoffsucht, Frühschwangerschaften, Spielsucht usw. an. Jugendliche erscheinen nicht zum Schulunterricht oder hauen bei uns im „Shelter-Home“ abends ab und gehen auf die Kurve. Wir haben immer wieder Jungs und Mädchen, die Diebstähle begehen, sich betrinken oder Klebstoff schnüffeln. Am meisten fordern uns stets jene mit Suchtproblemen heraus. Klebstoffschnüffeln und der Konsum von billigem Alkohol (Rum und Bier) ist in unserer Community bereits unter jungen Jugendlichen weit verbreitet, und die Versuchung unter den Kids ist gross. Die Kleinläden (Tindahan) und Karaoke Bars im Viertel verkaufen Spirituosen und Tabak selbst an kleine Kinder. Klebstoffe und Lösungsmittel werden von den „Hardware Stores“ in der Gegend ebenfalls bereits an Kinder verkauft – im Wissen, dass diese damit keine Schuhe flicken. Unsere Kids kommen aus einer Gegend, in welcher der Durchschnittsbewohner in der dritten Klasse die Schule abbricht, während zahlreiche gar nie erst zur Schule gehen. Zahlreiche Eltern haben Alkoholprobleme, streiten regelmässig und schlagen ihre Kinder. Kaum jemand hat eine Sozialversicherung oder eine Krankenkasse, dafür sind aber alle bei den Kapitalisten im Viertel verschuldet und die Hälfte  der Slumbewohner beteiligt sich am illegalen Glücksspiel. Während ein Grossteil der Kinder bereits an Asthma, Bronchitis oder anderen Lungenerkrankungen leidet, werden vor ihren Hütten täglich Abfallhaufen abgebrannt. Auch das Verhindern von Frühschwangerschaften ist eine echte Herausforderung. Dadurch, dass in den meisten Hütten keine Raumtrennung vorhanden ist, können die meisten Kinder bereits von klein auf den Geschlechtsakt ihrer Eltern oder anderer Mitbewohner beobachten. Gesetzeswidrige Frühheiraten, mit oder ohne Einverständnis der Eltern, sind nichts Aussergewöhnliches. Ebenso häufig kommt es bei Minderjährigen zu Schwangerschaften. Mädchen, die selber noch halbe Kinder sind, gebären Kinder, für die sie nicht sorgen können. Auch die Väter der Kinder, oft selber noch Jugendliche, ohne Schulbildung dafür aber mit Suchtproblemen, können nicht für ihre Familien sorgen. Es ist ein Teufelskreis, und obwohl die Kinder und Jugendlichen die Fehler anhand der zahlreichen schlechten Beispiele längst erkennen können, fällt es vielen von ihnen schwer, diesem Teufelskreis zu entrinnen und nicht die gleichen Fehler zu begehen. Den Kids Hoffnung, Glaube und Liebe geben, ihnen die Augen für die traurige Realität aber auch für eine mögliche, bessere Zukunft öffnen, sie in täglichen Gesprächen neu für die Schule motivieren, allmorgendlich vom Unterricht fernbleibende Kinder ins Center bringen und jeden Abend Ausreisser ins „Shelter-Home“ zurückholen sind tägliche Aufgaben. Den Kids Vorbild sein, immer wieder neue, ihren Bedürfnissen angepasste Strategien für ihre Betreuung und ihren Schulunterricht entwickeln, und ihnen aufzeigen, wie wertvoll sie sind, welches Potential in ihnen steckt und letztendlich, dass ein anderes, lebenswerteres Leben möglich ist, bringt uns immer wieder an unsere Grenzen und darüber hinaus. Hier macht unser Glaube den grossen Unterschied; er gibt uns Kraft, Halt und Durchhaltevermögen, sodass wir nie aufgeben, sondern voller Hoffnung und Zuversicht für ein besseres „Jetzt“ kämpfen. In regelmässigen Gebetsrunden beten wir mit und für die gefährdeten Kinder – nicht selten mit sehr positiven Resultaten. Oft kommen uns danach auch neue Ideen, wie wir die Probleme der Kids bekämpfen und ihr Interesse für den Schulunterricht besser fördern können.

Wednesday, July 20, 2011

Sicht der Besucher – Steiler Einstieg

Es gibt die, die von Anfang an da waren, jene die später dazu kamen, und es gibt die Besucher. Wer von Anfang an da war, kann sich erinnern, was war und weiss, was aus dem was früher war, wurde. Wer später dazukommt, blickt auf einen Teil der Geschichte zurück und sieht, was sich in diesem Zeitabschnitt verändert hat.  Der Besucher jedoch sieht nur das, was sich aktuell seinen Augen offenbart. Als vor neulich der Volontär Pascal Minder in Cagayan eintraf, musste dieser gleich einen steilen Einstieg miterleben. Nachdem wir Pascal vom  Flughafen abgeholt hatten, machten wir uns sogleich auf den Weg zum Madonna Hospital, wo ein von uns unterstütztes Kleinkind im Sterben lag. Noch vor unserem Eintreffen erhielten wir von der Ärztin die Nachricht, wonach die kleine Maricel soeben verstorben war. Wir hatten das 9 Monate junge Mädchen und seine Familie unterstützt und das Möglichste versucht, um ihr Leben zu retten. Maricel litt an TB-Meningitis. Der durchgeführte CT-Scan hatte zwei Tage zuvor gezeigt, dass ihr Gehirn bereits voller Wasser (Hydrozephalus) war und grössten Schaden erlitten hatte. Zusammen mit der Familie hatten wir darauf entschieden, keine Medikamente mehr zu besorgen, worauf mit dem baldigen Tod von Maricel zu rechnen gewesen war. Am Spitalbett bat ich Pascal mit seiner Digitalkamera ein Foto von Maricel zu machen - dieses benötigten wir für den Hilfeantrag beim Philippinischen Lotteriefonds, welchen wir bei kritischen Patienten stets um finanzielle Unterstützung bitten. Pascal meisterte diese Situation sehr gut, auch wenn er sich seinen Einstieg wohl etwas anders vorgestellt hatte. Die Familienmitglieder von Maricel sind völlig mittellos; sie leben als papierlose Bettler auf der Strasse und übernachten in einem zusammengebretterten Unterschlupf - keiner der Angehörigen hat Schulbildung, keines der Kinder wurde je registriert oder geimpft. Maricels Beerdigung wurde von IKP im einfachsten Rahmen organisiert. Herald, einer unserer Betreuer, fand auf dem Friedhof, unter freiem Himmel, im Sonnenschutz der Bäume, tröstende Worte für die Angehörigen. Vor der Bestattung sangen wir, mit einer Handvoll IKP-Kids, einheimische, christliche Lieder, wobei unsere Mitarbeiterin Jasmine und ich Gitarre spielten. Nach dem gemeinsamen Gebet liessen wir die anstrichlose Sperrholzkiste an Seilen die obligaten sechs Fuss in die Tiefe gleiten und begannen sie mit Erde zu bedecken. Es war ein strahlend schöner Morgen, und die Stimmung unter den Bäumen beim Friedhof war trotz des bedrückenden Ereignisses friedlich. Beim Bildungscenter hatten wir noch einen Sack Zement übrig, welchen ich später zusammen mit zwei unserer Jungs zum Grab brachte, wo wir daraus eine kleine Grabplatte mit Inschrift pflasterte.

Eine Woche vor Maricels Tod war bereits Rodel, ein Junge aus unserer Kindertagesstätte verstorben. Nachdem er in der Hütte seiner Familie drei Würmer erbrochen hatte, legte er sich hin und starb. Die Todesursache ist unklar und wird auch nie ermittelt werden – Rodel wurde am nächsten Tag bereits beigesetzt. Für uns war es einmal mehr ein schmerzlicher Verlust. Rodel gehörte zu unserer IKP-Familie und hatte seinen festen Platz in unseren Herzen. Tote Kinder sind in den Armenvierteln jedoch nichts Aussergewöhnliches, und dementsprechend ist wohl auch der Umgang mit ihrem Tod anders als etwa in Schweizer Breitengraden. Der Tod wird als natürlicher Bestandteil des Lebens akzeptiert; Sterben ist kein Tabu und man fragt nicht gross warum und wieso, sondern nimmt es scheinbar als selbstverständlich hin und lebt weiter. Auf der Rückfahrt vom Friedhof sagte Pascal auf einmal, „Es ist hier wie in Afrika“. Er führte weiter aus, dass er für einige Zeit in Namibia gewesen sei und ihn die hiesigen Zustände wieder an diese Zeit erinnerten. Ich konnte dazu nichts sagen, da ich selber weder in Namibia noch in anderen Afrikanischen Ländern gereist bin. Besucher erschrecken oft ab den Zuständen in unserem Viertel; der Gestank, der allgegenwärtige Dreck und Abfall, Kleinkinder mit Husten und laufenden Nasen, die von Kopf bis Fuss in Schmutz gekleidet in Pfützen neben brennenden Plastikhaufen spielen, betrunkene Männer bereits in den frühen Morgenstunden, Jugendliche, die an mit Klebstoff bestrichenen Plastiktüten schnüffeln, streunende Hunde voller blutiger Geschwüre, primitivste Hütten ohne Wasser und ohne Toiletten sowie der Anblick der in den Abfallbergen wühlenden Wertstoffsammler, hinterlassen bei vielen von ihnen bleibende Eindrücke. Besucher sehen aber eben nicht, was einmal war, sondern nur was gerade ist. Denn, obwohl noch vieles nicht ist, wie es sein sollte, hat sich in unserer Community dennoch vieles sehr positiv verändert. Die zahlreichen Kinder und Jugendlichen, die heute nicht mehr auf der Mülldeponie arbeiten sondern den Unterricht in unserem „Learningcenter“ besuchen, sind dabei nur ein Beispiel.

Friday, July 8, 2011

Centerumbau und Ausbau

Um den neuen Klassengrössen gerecht werden zu können, wurden wiederum bauliche Massnahmen im Center notwendig. Klassenzimmer wurden umgebaut und vergrössert, und in der grossen Eingangshalle des Hauptgebäudes entstand ein Obergeschoss mit einem neuen Klassenzimmer. Vor dem Schulstart musste leider auch das ganze Dach renoviert werden. Das alte wurde 2008/09 aus Spargründen mit billigem Blech bedeckt und hatte nun bereits zahlreiche Wassereinlässe, wodurch das Center bei starkem Regenfall  regelmässig halb unter Wasser gesetzt wurde. Wir haben daraus unsere Lehren gezogen und werden künftig nicht mehr die billigsten Baumaterialien verwenden. Das alte Dach haben wir an einige der ärmsten Wertstoffsammlerfamilien verteilt. Diese sind Teil des Projektes „Ang Dapit Nga Kapuy-An“. Nachdem das Mano-Mano Village nun offiziell vermessen und die einzelnen Parzellen den noch illegalen Bewohnern zugeteilt wurden, müssen die Familien nun schrittweise ihre Hütten abbrechen und an den neuzugewiesenen Standorten wieder aufrichten. Den meisten fehlt das Geld zum Bau einer neuen Hütte, und die Materialien der alten Hütten können nach deren Abriss oft nicht mehr verwendet werden. Die Blechabschnitte unseres alten Daches dienen nun ein paar Familien als temporäre Unterkünfte.


Monday, June 27, 2011

Tetanus Impfkampagne 2011


Die zweite Tetanus-Impfserie konnte am Samstag, dem 18. Juni 2011, erfolgreich durchgeführt werden. Da sich 17 Krankenschwestern sowie ein Arzt freiwillig fürs Impfen anerboten, entschieden wir spontan, gleich eine zweite Medical-Mission durchzuführen. Diese verlief reibungslos und es konnte wiederum zahlreichen Menschen geholfen werden. Die Daten zur zweiten Medical-Mission werden derzeit noch ausgewertet. Die dritte Tetanus-Impfserie wird voraussichtlich nächsten Oktober durchgeführt. Wie ihr feststellen könnt, ist die Zahl kranker Menschen, die uns um Hilfe bitten, stark zunehmend. Beinahe täglich suchen Menschen mit Krankheiten unser Center auf. Es ist schwierig, diese Menschen abzuweisen. Gleichzeitig ist diese Entwicklung aber auch besorgniserregend; vor allem aufgrund der dadurch verursachten hohen Kosten. Bei unserer Hilfe appellieren wir stets an die Eigenverantwortung der betroffenen Familien, koordinieren mit den öffentlichen Sozialinstitutionen und ersuchen andere einheimische Organisationen um Hilfe. Wir werden dabei zunehmend effizienter. Dennoch aber bleibt es eine Realität, dass gerade bei besonders schwierigen und teuren Notfällen, wo ohne Zeitverzug gehandelt werden muss, die Mittelbeschaffung vor Ort sehr schwierig ist. Trotz wertvollen Kontakten in diversen öffentlichen Institutionen dauert die Bearbeitung von Anträgen stets zu lange. Auch können vor Ort nur limitierte Mittel beschafft werden, sodass viel Einsatz auf unserer Seite oft lediglich kleine Resultate erbringt. Gespräche mit diversen Ärzten führten jedoch dazu, dass sich die Northern Mindanao Medical Society (Ärztegemeinschaft von Nordmindanao) für eine künftige Partnerschaft mit IKP interessiert. Gestern hatten wir diesbezüglich ein Treffen mit Dr. Red, dem Präsidenten der Ärztevereinigung, der gleichzeitig auch der Chirurg von Vivian Reyes ist. Ich bin gespannt auf die weitere Entwicklung diesbezüglich. Da jedoch viele Leute viel versprechen und dies dann oft nicht halten, bin ich vorsichtiger geworden und habe dementsprechend keine allzu grossen Erwartungen. Vivian Reyes wurde vorgestern operiert. Ihre Operation dauerte vier Stunden und verlief ohne Probleme. Wir beten nun, dass sie ganz gesund werden darf. 

Sunday, June 26, 2011

Neue Medizinische Notfälle

Seit 10 Tagen unterstützen wir eine 27 jährige Mutter von drei Kindern. Vivian Reyes begab sich wegen starken Bauchschmerzen ins City Hospital. Da es dort keinen Ultraschall gibt, konnte anfänglich keine genaue Diagnose gestellt werden. Nach vier Tagen war ihr Zustand hoch kritisch. Ihre Familie hatte zu diesem Zeitpunkt bereits ihre drei Schweine verkauft und nun keine Mittel mehr zur Verfügung. Die ältere Schwester von Vivian kam weinend in unser Center und gab an, dass ihre Schwester im Sterben liege. Zusammen mit einer unserer Mitarbeiterinnen begab ich mich darauf ins City Hospital. Der Bauch von Vivian war aufgeblasen und ihre Augen sowie ihre Haut waren stark gelbverfärbt. Sie war rastlos, kippte ihren Kopf pausenlos von einer Seite zur anderen und sprach unverständliche Worte. Der behandelnde Arzt erklärte uns, dass die Diagnose „Ascending Cholangitis“ secondary to „Choledocholithiasis“, sowie eine schwere, bilaterale Lungenentzündung sei. Zwei grosse Gallensteine hatten den Ausgang von Leber und Gallenblase vollkommen verstopft, sodass sich die ganzen Abfallstoffe von Leber und Gallenblase stauten und nicht mehr ausgeschieden werden konnten. Die Gallenblase wurde dadurch aufgeblasen wie ein Ballon und drohte jeden Moment zu platzen, was in Vivians Zustand zum Tode geführt hätte. Vivian war bereits stark septisch (Blutvergiftung) und ihr drohte multiples Organversagen. Sie musste dringend notoperiert und in ein ICU (Intensiv Care Unit, Intensivstation) verlegt werden. Beides war im City Hospital nicht möglich. Abklärungen im Provincial Hospital ergaben, dass dort – wie immer –  weder ein freier OP noch ein freier ICU-Platz zur Verfügung standen. Unsere Entscheidung war hier einmal mehr eine Entscheidung auf Leben und Tod. Um die junge Mutter nicht sterben zu lassen, entschied ich, sie ohne weiteren Zeitverzug ins Privatspital zu verlegen und dort umgehend die Notoperation durchführen zu lassen. Selbst bei einer Verlegung war ein Überleben nicht sicher, hätten wir sie jedoch nicht ins Privatspital verlegt, wäre sie noch am gleichen Tag ihrer Krankheit erlegen. Im Privatspital wurde unverzüglich die erste Operation durchgeführt. Dabei wurde ein Schlauch als künstlicher Gallenblasenausgang verlegt. So konnten die aufgeblasene Gallenblase entleert und die Abfallstoffe von der Leber wieder ausgeschieden werden. Die Hauptoperation, wobei die Steine sowie die ganze Gallenblase entfernt werden, konnte aufgrund des kritischen Zustandes nicht durchgeführt werden. Was ihre Situation zusätzlich bedeutend erschwerte waren ernsthafte Herzprobleme (instabiler Blutdruck, Wasser, viel zu hohe Herzfrequenz). Vivian schwebte für sechs Tage in Lebensgefahr. Sie musste intubiert werden, erhielt vier Antibiotika gleichzeitig verabreicht und wurde mit zahlreichen weiteren Medikamenten behandelt. Dank Mithilfe der Ärzte konnten die Behandlungskosten sowie die Kosten für die Operation möglichst tief gehalten werden. Dennoch sehen wir uns täglich mit Ausgaben (vorwiegend für Medikamente) von rund CHF 800.- konfrontiert. Die Gesamtbehandlungskosten werden auf zirka CHF 13‘000 geschätzt. Während wir Vivian unterstützen, helfen wir gleichzeitig vier Babies im öffentlichen Spital. Drei von ihnen leiden an Lungenentzündung und eines an Denguefieber. Weiter versuchen wir einem dreijährigen Jungen mit einem Loch im Herzen zu helfen. Er benötigt möglichst rasch eine Herzoperation, welche nur im Heart-Center, in der Hauptstadt Manila, durchgeführt werden kann. In seinem speziellen Fall haben wir noch Zeit; es ist also kein absoluter Notfall. Wir helfen seinen Eltern deshalb dabei, beim Philippinischen Lotteriefonds um Hilfe zu bitten. Die Familie ist nächste Woche zu einem Interview eingeladen und hat gute Chancen, dass der Lotteriefonds einen Grossteil der Kosten, wenn nicht gar die ganzen Kosten, tragen wird. Diesen Erflog verdanken wir unserer über siebzigjährigen Sozialarbeiterin, die sehr gute Beziehungen hat und, sofern eben genügend Zeit bleibt, immer ein Maximum herausholen kann. Die Operation des Jungen wird CHF 25‘000.- kosten. Weiter wollen wir der  9 jährigen Aliyah Montoya helfen. Sie leidet an massiver „Keloidbildung“ im Gesicht - eine Gesichtshälfte ist bereits völlig entstellt und die halbe Nase fehlt. Die Krankheit kann durch einen operativen Eingriff im Gesicht geheilt werden. Auch im Fall Aliyah bemühen wir uns um lokale Mittel. Dies ist jedoch eher aussichtslos, da ihre Krankheit nicht lebensgefährlich ist.

Monday, June 13, 2011

Beginn Schuljahr 2011


Heute war bei uns im Center offizieller Schulstart für das Schuljahr 2011. Die High-School-Students durften bereits eine Woche früher zurück auf die Schulbank. Da eine Handvoll SchülerInnen, nach dem erfolgreichen Abschluss des sechsten Schuljahres im vergangenen Jahr, nun vom IKP-Center in die public High-School wechseln konnte, haben wir uns erlaubt, wieder eine Handvoll (oder auch zwei) bedürftiger Kinder in unserem Center aufzunehmen. Nach vierjähriger Tätigkeit halten uns also heute täglich bereits 165 Kinder und Jugendliche auf Trab; 149 von ihnen in unserem eigenen Bildungscenter und 45 der 165 in unserer Pflegefamilie im „Shelter-Home“. Sie alle haben grosse, armutsbedingte Probleme, kommen aus zerbrochenen und zerrütteten Familien, erlebten den Tod der Eltern, häusliche Gewalt, Vernachlässigung, Krankheit, Missbrauch, Kriminalität und erhielten Ihre Geschichten sind oft ähnlich, trotzdem aber individuell verschieden. Der grössere Teil der Kids ist aber auch dieses Jahr wieder hochmotiviert, und die Entwicklung einiger Kinder und Jugendlicher ist geradezu bemerkenswert. Der Schulstart war wie immer turbulent, verlief jedoch ohne weitere Schwierigkeiten.

Monday, March 28, 2011

Daisy - Das Leiden hat ein Ende



Heute Morgen um ca. 09:00 Uhr CH-Zeit erlag die achtjährige Daisy Galope im Madonna and Child Hospital in Cagayan de Oro ihrer schweren Krebserkrankung. Ich hatte das Mädchen eine Woche vor meiner Abreise in Richtung Schweiz im Provincial Hospital (dem grösseren der beiden öffentlichen Spitäler) kennengelernt. Als ich Rose, eine unserer Mütter, welche gerade die Gallensteine herausoperiert hatte, besuchte, bat mich der Vater von Daisy mit Tränen in seinen Augen um Hilfe. Daisy war zu diesem Zeitpunkt in einem schrecklichen Zustand; sie war am Verhungern, litt an einer Lungenentzündung und an extrem starken Schmerzen im Bereich ihres vom Krebs zerfressenen Beines. Wenn Daisy nicht ohnmächtig war, versuchte sie, mit arg verzerrtem Gesichtsausdruck die Tränen zurückzuhalten. Ging dies aufgrund der starken Schmerzen nicht mehr, wimmerte sie pausenlos und rief nach ihrer Mutter, welche vor einem Jahr verstorben ist. Daisy hatte seit Tagen keine Medikamente mehr erhalten, da Vater und Bruder kein Geld mehr hatten und die nächsten Verwandten rund drei Fahrstunden von Cagayan de Oro entfernt wohnen. Die Ärzte besuchten sie nur noch selten und ihr schwaches Schmerzmittel konnte den extremen Schmerzen längst nicht mehr entgegenwirken. Das Mädchen so leiden zu sehen, war unerträglich. Ich besorgte umgehend die notwendigen Medikamente und suchte nach dem behandelnden Arzt. Daisy war bereits seit Monaten im Spital, trotzdem wurde erst nach unserem Eingreifen eine zuvor entnommene Biopsieprobe ausgewertet - Diagnose Krebs im Endstadium. Mit Daisy begann ein erneuter Kampf um das Leben oder zumindest ein erträglicheres und menschenwürdigeres Sterben. Wir besorgten täglich die notwendigen Medikamente und Flüssignahrungsmittel, halfen dem Vater bei Daisy’s arg vernachlässigter Körperpflege, sprachen mit Ärzten und dem Pflegepersonal, besuchten sie morgens und abends, sangen für sie im Spital, beteten mit ihr, lasen Geschichten vor, motivierten sie zum Essen und zum Weiterkämpfen, und brachten sie schliesslich am Tage meiner Abreise in Richtung Schweiz in ein Privatspital, wo sie von einem Onkologen und weiteren Spezialisten untersucht werden konnte. Es war aber bereits zu spät; für Daisy gab es medizinisch keine Hoffnung mehr.


Kurz nach meiner Abreise und nachdem sie im Privatspital untersucht worden war, zogen Daisy, ihr Bruder und ihr Vater in meinem Zimmer im Shelter-Home ein, wo Daisy von da an palliativ und mit Alternativmedizin betreut bzw. behandelt wurde. Ihr Schmerzmittel war jetzt auf Morphinbasis, was die Schmerzen zumindest am Anfang etwas vermindern konnte. Ich hatte in den vergangenen Wochen dank Skype und Mobiltelefon täglich Kontakt zu Daisy, sang und betete mit, wenn ihre Angehörigen, unsere Pflegeeltern, unsere Volontäre und unsere Kids mit ihr sangen und beteten. Für zwei Wochen hatte Daisy wieder ein Leuchten in ihren Augen. Sie sang bei den Liedern mit - wenn sie nicht zu müde war - und sprach mit mir am Telefon oder über Skype. Ich sang für sie „Ikaw ang kusog“ (du bist meine Kraft) und versuchte sie stets aufzumuntern. Bereits im Spital hatte ich jeweils den Clown gemacht, motivierende Geschichten erzählt, kraftgebende Lieder gesungen und Daisy dabei ab und zu sogar zum Lächeln gebracht. Am Ende meiner Besuche betete ich jeweils für sie, wobei sie meistens einschlief. Nach dem Verlassen des Spitals versteckte ich mich dann jeweils im Auto und heulte mir den Schmerz von der Seele. In der vergangenen Woche verschlechterte sich ihr Zustand täglich und schliesslich stündlich. Das Schmerzmittel wurde in der absoluten Maximaldosis verabreicht und dennoch hatte Daisy jetzt unerträgliche Schmerzen. Sie konnte nicht mehr Essen und bekam schliesslich auch zu wenig Sauerstoff. Gestern brachte Virgie sie deshalb zurück ins Spital, wo sie, zusammen mit ihrem Bruder und dem Vater, ihre letzten Leidensstunden verbrachte. Jetzt ist der Kampf ausgestanden, Daisy muss nie wieder leiden.




Einen Tag nachdem ich mich von Daisy im Spital verabschiedet hatte, schrieb ich während meinem Flug von Manila nach Abu Dhaby ein Gedicht für sie. Diese Zeilen kamen mir ganz spontan in den Sinn, sodass ich sie, mit meiner Cebuano-Bibel als Unterlage, auf die Rückseite meines E-Tickets schrieb:

Poem for Daisy


Daisy o Daisy, child of God
Steep is thy way, narrow thy road
Daisy o Daisy, how sweet is thy smile
Though you are tired you’re walking the mile

Daisy o Daisy, child of God
How brave thou art in carrying on
Daisy o Daisy, sunshine of ours
Let us bear with you to lighten the hours

O Father in heaven, ELOHIM of men
Forgive us our sins; hear our prayers for we honor the lamp
As two or three of us stand, be in our midst and lend Daisy your hand

Have mercy o God; take off pain and sorrow and restore your child
Let angels sing and healing bring
For Daisy the sunshine, a new life shall begin

Heal her o YAHWEH, heal her fast
For long is her suffering and burdened our hearts
Save her precious life, if this is your will
Knowing your power in quietness and trust
We shall wait; faithful and still

Daisy our sunshine, our Love will always remain
Love never gives up nor perishes away
Climb up to the peak and never surrender
For thy will is strong and HIS Love is tender

Daisy o Daisy, how sweet is thy smile
YAHSHUA is with you, while walking the mile.

Das vergangene Jahr, vor allem aber die vergangenen Monate, waren sehr intensiv. Emotionen wie Freude, Trauer, Wut, Ratlosigkeit aber auch viel Hoffnung und unbeschreibliche Glücksgefühle standen einander ungewöhnlich nahe und wechselten sich regelmässig ab - eine Achterbahn der Emotionen. Während die einen tot geglaubt zu frischem Leben erwachen und Heilung erfahren, müssen andere schreckliche Schmerzen ertragen und viel zu jung sterben. Roseve, Jasmine, Clarissa, Roderick, Varve und Daisy stehen für Kinder, denen grosses Unrecht angetan wurde oder die unbeschreibliche Schmerzen ertragen mussten. Sie sind nur die Spitze des Eisberges, und täglich müssen abertausende von Kindern in einer ungerechten Welt leiden. IKP konnte diesen sechs Kindern sowie zahlreichen anderen Kindern und auch erwachsenen Menschen in ihren schwersten Stunden beistehen und ihnen ihre Menschenwürde zurückgeben. Varve singt und tanzt wieder, Clarissa hat eine Familie gefunden, die sie liebt, und Jasmine hat ihre Rehabilitation bald abgeschlossen. Roderick und Daisy haben uns verlassen, dabei standen wir ihnen jedoch bei und wir kämpften zusammen mit ihnen bis zum Schluss. Roseve war alleine in ihrer schwersten Stunde (Mädchen aus dem Agora-Outreach, wurde 2008, im Alter von 7 Jahren, vergewaltigt, mit Eisenstangen geschlagen und mit zehn Messerstichen erstochen), wir konnten ihr nicht beistehen. Zuvor durfte sie jedoch mit uns schöne Momente erleben, und im Leben zählen eben diese schönen Momente.

Monday, February 28, 2011

Varve – ein Zeugnis



Varve Paraiso Mayake ist ein siebenjähriges Mädchen vom Hiligaynon Tribe. Varve lebt mit ihrer Familie in Indahag, einer kleinen Gemeinde auf einem Hochplateau bei der Stadt Cagayan de Oro. Varve lebt ein einfaches Leben. Ihre Familie ist arm, die Eltern kümmern sich jedoch liebevoll um ihre beiden Kinder, Varve und Jeby. Der Vater arbeitet bei jeder Gelegenheit als Tagelöhner in der Landwirtschaft oder als Hilfsarbeiter auf dem Bau. Wenn er Arbeit hat, verdient er im Durchschnitt PHP 150.- pro Tag, was rund CHF 3.- entspricht. Mit diesen drei Franken muss die Familie das Nötigste fürs tägliche Überleben besorgen; solange es keinen Notfall gibt, kommt die Familie so täglich über die Runden. Einziges Vermögen ist ein kleines Schwein, welches ausgewachsen einmal für allfällige Notfälle in der Familie hinhalten soll. Mayakes wohnen in einer kleinen, aus Brettern und Bambus selber zusammengebauten Hütte, welche sie an einem ungenutzten kleinen Hang errichtet  haben. Die meisten Nachbarn sind Verwandte. Sie alle sind land- und besitzlose Menschen, die weit unterhalb der Armutsgrenze leben. Trotz der schwierigen Situation in der Familie und dank dem Verantwortungsbewusstsein der Eltern, ist es Varve möglich, die öffentliche Schule zu besuchen - Varves Eltern konnten die Grundschule selber nie abschliessen. Varve ist eine gute und vor allem sehr fleissige Schülerin. Auch zuhause ist sie verantwortungsbewusst und kümmert sich liebevoll um ihren vierjährigen Bruder Jeby. In ihrer Freizeit besucht Varve am liebsten die Bibelstunde einer örtlichen christlichen Gemeinde. Sie kennt bereits zahlreiche Geschichten aus der Bibel. Manchmal versammelt sie die jüngeren Kinder in der Nachbarschaft und erzählt ihnen Bibelgeschichten. Varve ist für ihr Alter bereits sehr reif und verantwortungsbewusst. Ihre Angehörigen, Freunde, KlassenkameradInnen und LehrerInnen haben sie alle sehr lieb – Varve, die kleine Prinzessin von Indahag.


Es ist Montagmorgen, der 24. Januar 2011. Varve kann nicht mehr vom Bambusboden der Hütte aufstehen. Sie ist sehr müde, schlaff und klagt über Gliederschmerzen sowie Taubheit in den Extremitäten, vor allem in den Beinen. Auch beim Urinieren hat Varve jetzt Schmerzen. Das Mädchen hat zu diesem Zeitpunkt bereits seit sieben Tagen wiederkehrendes Fieber, Husten und seit drei Tagen auch noch den Mumps. Ihre Mutter Virginia hatte sie mit Hausmitteln gepflegt und ihr zudem Paracetamol gegen das Fieber gegeben. Jetzt bekommt es Virginia jedoch mit der Angst zu tun. Da es in Indahag keinen Arzt gibt,  beschliessen die Eltern, ihre Tochter in eines der beiden öffentlichen Spitäler in der Stadt zu bringen. Der Vater trägt Varve zur Strasse, wo sie auf das „Jeepney“ (öffentliches Verkehrsmittel) warten. Mit dem Jeepney geht es dann über eine holperige Steinstrasse hinunter in die Stadt. Nach zwei Fahrten mit dem Jeepney erreichen die Eltern um 13:00 Uhr das J.R Borja City Hospital in Cagayan de Oro. Varve wird untersucht, Blut und Urin werden analysiert. Ihr Zustand verschlechtert sich jetzt stündlich. Die Laboruntersuchungen ziehen sich hin, da das Spital völlig überlastet ist und die Familie Geld für die Laboruntersuchungen auftreiben muss. Der behandelnde Arzt kann an diesem Tag noch keine Diagnose stellen und verschreibt lediglich Paracetamol gegen das Fieber. Zwei Tage später, am Mittwoch, dem 25. Januar, kann sich Varve nicht mehr bewegen. Der Arzt verschreibt jetzt einen CT-Scan. Da es im City Hospital keine CT-Scan-Anlage gibt, begibt sich Varves Vater zum grösseren der beiden öffentlichen Spitäler der Stadt, dem Northern Mindanao Medical Center NMMC. Ein CT-Scan kostet dort PHP 4‘000.-. Die Familie hat zu diesem Zeitpunkt bereits sämtliche finanziellen Mittel, inklusive einem Kleinkredit zu Wucherzinsen, aufgebraucht - sie kann das dringend benötigte Geld für den CT-Scan auch nach der Reduktion auf PHP 2‘500.- durch die Spitalsozialarbeiterin nicht auftreiben. Varve schläft jetzt meistens und kann sich kaum noch bewegen. Um 12:00 Uhr mittags kann die Mutter Varve nicht mehr aufwecken. Sie ruft die Krankenschwester. Auch diese kann Varve selbst mit Schmerzreizen nicht mehr aufwecken. Das Mädchen atmet nur noch flach, hat kaum noch Puls und regt sich nicht mehr. Erst 20 Minuten später erscheint der herbeigerufene Arzt vor Ort und stellt fest, dass sich Varve bereits im Koma befindet. Sie wird mit Sauerstoff durch die Nase versorgt, auf eine Intubation wird jedoch vorerst verzichtet. Um 17:00 Uhr informiert der Arzt die Eltern, dass Varve an Tuberkulose-Meningitis leide, ihre Überlebenschancen mit weniger als 40% gering seien und sie im Falle des Überlebens aufgrund zu erwartender grosser Schädigungen am Gehirn ein Leben lang stark geistig behindert sein würde. Die Eltern sind nach dieser Botschaft zutiefst geschockt und demoralisiert. Am Freitag, dem 28. Januar, um 10:00 Uhr, setzt bei Varve die Atmung ganz aus. Jetzt erst, ganze 46 Stunden nachdem bei ihr die Bewusstlosigkeit festgestellt wurde, wird Varve intubiert und von da an durch die Familienmitglieder eigenhändig mit einem Beatmungsbeutel beatmet. Spätestens jetzt sollte sie dringend auf einer Intensivstation betreut und mit einer Beatmungsmaschine beatmet werden. Doch das Spital verfügt weder über das eine noch über das andere, und Varves Familie ist arm, sie kann sich einen Platz im Privatspital nicht leisten. Stunden und Tage vergehen, Varve bleibt im Koma und die Hoffnung bei den Angehörigen schwindet. Am Sonntag, dem 30. Januar, besuchen zwei Pastoren die Familie im Spital. Die Mutter erklärt die Situation ihrer Tochter und sagt, dass sie Varve nun nach Hause bringen würden, sodass das Mädchen im engsten Familienkreis sterben könne, die Spitalentlassungspapiere habe sie bereits unterschrieben. Der Vater  will Varve jedoch nicht nach Hause bringen, er hofft noch auf ein Wunder. Die Pastoren beten für Varve und ihre Familie und ermahnen die Eltern, Varve auf keinen Fall nach Hause zu bringen. Stattdessen müsse die Familie jetzt stark sein und für Varve beten, sodass Hilfe kommen möge. Die Eltern bleiben darauf im Spital und beatmen ihre Tochter weiterhin mit dem Beatmungsbeutel. Am Montag, dem 31. Januar 2010, begeben wir, die Kinderbetreuerin Jasmine Antipuesto, einige Kinder von Island Kids Philippines und ich, Thomas Kellenberger, uns in das City Hospital, um dort für ein Neugeborenes und dessen minderjährige Mutter (ehemaliges Patenkind von IKP) zu singen und zu beten. Als die Familie Mayake den Gesang aus dem Nachbarzimmer vernimmt, spricht sie Jasmine an. Jasmine kennt die Familie von früher her, da sie einmal die gleiche Glaubensgemeinschaft besuchten. Wir singen und beten für Varve und erfahren von der Familie was geschehen ist. Als ich danach sogleich mit dem behandelnden Arzt spreche, muss dieser eingestehen, dass das City Hospital nicht über die nötigen Einrichtungen verfügt, um Varve behandeln zu können. Ich erfahre, dass Varve seit Tagen mit dem Beatmungsbeutel beatmet wird und bei ihr kein CT-Scan durchgeführt werden konnte. Der Arzt macht mir wenig Hoffnung, seine Prognose ist mehr als nur entmutigend. Zurück am Bett von Varve mache ich jedoch eine merkwürdige Erfahrung. Ich betrachte das regungslose Mädchen und weiss, dass es für sie medizinisch kaum noch Hoffnung gibt. Selbst wenn wir sie jetzt auf die Intensivstation des besten Privatspitals der Stadt verlegen würden, hätte sie bestenfalls Chancen als Schwerstbehinderte das Spital wieder zu verlassen. TB-Meningitis tötet jährlich zahlreiche Kinder auf den Philippinen. Jene, die die Krankheit überleben, haben grosse Hirnschäden und können weder sprechen noch gehen; sie liegen im Bett und sind total von der Betreuung der Angehörigen abhängig. Es bringt doch nichts, man muss realistisch bleiben. Es ist nicht das erste Kind, das ich sterben sehe. Man muss den Tod als Bestandteil des Lebens akzeptieren können. Als mir all diese Gedanken durch den Kopf gehen, verspüre ich plötzlich eine grosse Liebe für Varve. Jetzt blitzen in mir Gedanken wie, „Liebe gibt niemals auf!“,  „das Leben eines Menschen ist mehr wert als alles Geld und alle Reichtümer der Welt!“, „warum soll ein armes Kind nicht die gleichen Chancen haben wie ein reiches?“. Ich denke nicht mehr rational, sondern jenseits menschlicher Logik. „Es ist nie zu spät!“, „ Varve lebt noch und kann geheilt werden!“, „Mit Gottes Hilfe ist alles möglich!“, - denke ich nun laut.  Ich frage den Arzt, „ wenn dies ihre Tochter wäre, was würden Sie tun?“. Er gibt mir zur Antwort, dass hier nichts mehr für sie getan werden kann und Varve dringend auf eine Intensivstation verlegt werden muss, da sie sonst innerhalb der nächsten Stunden sterben wird. Ohne weiter zu überlegen, biete ich der Familie an, ihre Tochter auf die Intensivstation eines anderen Spitals zu verlegen, da dies ihre einzige Überlebenschance ist. Die Familie nimmt dieses Angebot sofort an und hegt wieder ein wenig Hoffnung. Die Suche nach einer Intensivstation gestaltet sich schwierig. Im NMMC, dem grösseren staatlichen Spital, sind alle Intensivplätze besetzt, und auf der Warteliste stehen bereits die Namen von 14 Patienten. Selbst in den meisten Privatspitälern sind alle Intensivplätze belegt, da zurzeit zahlreiche Patienten an Denguefieber leiden. Andere Spitäler wollen Varve nicht annehmen, da sie keinen Isolationsraum zur Verfügung haben und sie Varve mit der Diagnose TB-Meningitis nicht in einer offenen Intensivstation aufnehmen können. Nach Mitternacht werden wir endlich fündig; das CUMC Capitol University Medical City, eines der besten Spitäler der Stadt, hat einen Platz für Varve. Die einzige Ärztin für pedia critical care in Cagayan de Oro erklärt sich dazu bereit, Varve als ihre Patientin anzunehmen. Mit dem Krankenwagen wird Varve zirka eine Stunde später – der einzige Krankenwagen ist noch damit beschäftigt Ärzte nach Hause zu bringen - ins CUMC verlegt. Doktor Agnes Ann untersucht Varve in der Notaufnahme. Als die Spezialistin danach mit uns spricht, bin ich den Tränen nahe. Varves Zustand ist sehr schlecht und gestützt auf die Diagnose der Ärzte im öffentlichen Spital  sowie den aktuellen Zustand räumt auch Doktor Agnes Varve kaum Überlebenschancen ein. Auch sie sagt, dass das Gehirn von Varve vermutlich bereits grossen Schaden genommen habe und das Mädchen im Falle des Überlebens stark behindert sein würde. Wortwörtlich sagt die Ärztin, dass Varve wie ein Gemüse vegetieren werde. Alle sind still nach dieser Information, die Hoffnung in den Augen der Eltern schwindet umgehend und die Grossmutter sagt schliesslich, „es wäre besser gewesen, Varve nach Hause zu bringen“. Für einen kurzen Moment geht mir dieser Gedanke auch durch den Kopf, doch dann will ich wieder kämpfen, nicht aufgeben, auf Gott vertrauen und um das Leben von Varve beten. Wir motivieren die Eltern, sagen ihnen, dass sie jetzt stark sein und ganz auf Gott vertrauen müssen. Der CT-Scan ist für den nächsten Morgen angesagt, und noch kann niemand genau sagen, ob und wie stark das Gehirn von Varve Schaden genommen hat. Ich stehe am Bett von Varve, die regungslos, mit einem Schlauch im Mund und einem sich im Takt mit dem Lärm der Beatmungsmaschine hebenden und senkenden Brustkasten, daliegt. Modernste Apparate messen hier Herzfrequenz und Sauerstoffgehalt im Blut. Die Beatmungsmaschine arbeitet exakt und Varve wird rund um die Uhr von professionellem Personal überwacht. Aber wie sieht es in ihrem Gehirn aus, wird sie je wieder gehen können, sprechen können, die Schule besuchen, mit Freunden spielen und lächeln können oder ist sie bereits hirntot und wird für ihre Familie gar zu einer Belastung werden? Nein, dies kann ich nicht akzeptieren. Wir müssen positiv denken, müssen kämpfen und fest an eine Heilung glauben – Liebe gibt niemals auf. Ich bete ein langes Gebet am Bett von Varve, ihr Leben ist mir auf einmal das Wichtigste auf der Welt. Ich flehe, bitte um Vergebung, will alles für ihr kostbares Leben geben und bitte Gott, dass er uns Varve, die ich nicht einmal kenne, nicht wegnehmen und sie stattdessen ganzheitlich heilen solle. Die Eltern und Virgie beten ebenfalls, ein ganz spezielles Gefühl erfüllt den Raum; nicht Hilfslosigkeit sondern ein fester Glaube und Gottvertrauen sind jetzt die Pfeiler, auf denen wir stehen. Medizinisch wird nun alles Menschenmögliche für Varve getan. Für die Mayakes und uns heisst es jetzt positiv denken und ganz auf Gott vertrauen.


Als bei Varve am nächsten Morgen ein CT-Scan durchgeführt wird, stehen ihre Eltern und ich beim Eingang des Behandlungsraumes. Die Tür ist zu einem Spalt geöffnet, sodass wir die Röhre der grossen Anlage sehen können. Varve wird auf einer Bahre langsam hineingeschoben, als der Arzt auf einmal erstaunt sagt: „Sie öffnet ihre Augen!“. Varve erwacht für kurze Zeit aus dem Koma, was uns alle in grosse Aufregung versetzt und uns Mut gibt. Als sie bald darauf wieder bewusstlos ist, blicken wir gespannt über die Schultern des Neurologen, auf den Monitor der CT-Scan-Anlage. Das Resultat der Untersuchung zeigt, dass am Gehirn von Varve keine sichtbaren Schäden entstanden sind. Es bestehen keinerlei Anzeichen für eine TB-Meningitis und auch der in solchen Fällen stets vorhandene Hydrocephalus (Wasser im Gehirn) ist nicht vorhanden. Unsere Hoffnung steigt, und wir sind erfüllt von Dankbarkeit für die positiven Ereignisse der vergangenen Stunden. Die Untersuchungen dauern den ganzen Tag an. Am Abend ist klar, es ist keine TB-Meningitis sondern GBS (Guillain-Barré-Syndrom). Varves Zustand ist jedoch nachwievor kritisch, denn zur Autoimmunerkrankung GBS kommen nun noch eine schwere bilaterale Lungenentzündung, ein Pneumothorax infolge der falschen Beatmung mit dem Beatmungsbeutel sowie diverse Herzprobleme hinzu. Die behandelnde Ärztin macht uns deshalb auch keine Hoffnungen, sondern betont, dass Varve auch jetzt noch jederzeit sterben könne. Einziger Hoffnungsschimmer ist also, dass Varve, sollte sie einmal wieder gesund werden, vielleicht keine Hirnschäden haben wird. Aber auch diesbezüglich ist sich die hinzugezogene Neurologin nicht sicher, da Varve bereits kurz nach dem Öffnen ihrer Augen im CT-Scan wieder ins Koma gefallen ist und man nicht weiss, ob und welche Schäden die vier Tage Beatmung mittels Beatmungsbeutel an ihrem Gehirn angerichtet haben.


Während vier Wochen besuche ich Varve und ihre Familie tagtäglich, manchmal gar zweimal am Tag. Wir helfen beim Besorgen der teuren Medikamente, sprechen mit den Ärzten, helfen beim Verfassen von Bettelbriefen an den City Mayor (Stadtpräsidenten) und den Congressman (politischer Vertreter der Provinz), helfen beim Einreichen eines Unterstützungsantrages beim Philippinischen Lotteriefonds und ermutigen die Eltern täglich beim Kampf um das Leben ihrer Tochter. Diese Zeit wird zu einer langen und nervenzerreissenden Geduldsprobe, in der wir, zusammen mit der Familie, täglich mehrmals für das Leben von Varve beten und dabei ganz auf Gott vertrauten. Es kommt zu zahlreichen schwierigen und sehr emotionalen Perioden, in denen es oft zu Tränen der Verzweiflung aber auch zu Tränen der Freude kommt. Sieben Spezialisten sind schliesslich daran beteiligt, das Leben von Varve möglichst zu erhalten. Wir erleben bange Momente und schlaflose Nächte, etwa dann, wenn der Blutdruck zusammenzubrechen droht, das Herz Störungen hat oder zu wenig Sauerstoff im Blut ist. Als Varve nach beinahe einer Woche im ICU erneut aus dem Koma erwacht, ist dies für uns alle ein unbeschreibliches Gefühl. Von da an macht sie jeden Tag kleine Fortschritte; am nächsten Tag kann sie die Finger ihrer Hand öffnen und wieder schliessen, tags darauf hebt sie den Arm ein wenig an, und ein paar Tage später kann sie ihre Füsse wieder bewegen. Ihre Eltern massieren liebevoll und stundenlang ihre Füsse, kratzten ihr die beissenden Stellen am Kopf und waschen die wundgelegenen Körperstellen. Eine grosse Erleichterung tritt ein, als man Varve nach der zweiten Woche Intensivstation einen Luftröhrenschnitt macht und den Schlauch der Beatmungsmaschine von da an am Hals fixiert. Jetzt kann Varve sogar wieder sprechen, und die wunden Stellen in ihrem Mund und im Rachen können heilen. Manchmal bringen wir abends unsere Gitarren zu Varve ans Bett und singen zusammen mit den Eltern für sie. Ich bringe jeweils eine Kinderbibel auf Cebuano (gesprochener Dialekt) mit mir und lese ihr daraus aufbauende Geschichten vor. Als ich das Buch einmal vergesse, will Varve trotzdem eine Geschichte hören, sodass ich spontan zu erzählen beginne. Nach diesem Abend will Varve nur noch freierzählte Geschichten hören, was zu einer echten Herausforderung wird. Während der Zeit im Spital entsteht zwischen uns und der Familie von Varve eine auf Nächstenliebe basierende, innige Freundschaft, die dauerhaft werden soll.


 
Während ihrem Aufenthalt im Spital erzähle ich den Kindern in unserem „Agora-Outreach“ (Programm mit Essensabgabe an Strassenkinder, jeden Samstag) die Geschichte von Varve, die zu diesem Zeitpunkt noch im Koma ist. Die Kinder malen darauf Zeichnungen oder schreiben Briefe für sie, die ich dann am Abend ins Spital bringe und ihr vorlese. Da das Thema die Kinder an diesem Samstag sichtlich bewegt, bereite ich für den darauffolgenden Samstag folgenden Text auf Cebuano vor:


ANG BILI SA KINABUHI / WERT DES LEBENS

“Ang Atong halangdon nga Kinabuhi mas importante kesa sa tanan kwarta og tanan kadato sa Kalibotan; kay ang GINOO wala nagbuhat sa kwarta apan gibuhat nia kitang tao sama sa iyang panagway. Kita tanan gwapa og gwapo nga mga anak sa GINOO.“

Unsere wertvollen Leben sind mehr wert als alles Geld und alle Reichtümer der Welt; den Gott hat nicht das Geld geschaffen, sondern er hat uns Menschen geschaffen, nach seinem Ebenbild. Wir sind alle wunderschöne Kinder Gottes.

 
Ich merke, wie solche aus dem Leben gegriffene Themen die Kinder und Jugendlichen bewegen und wie wichtig für sie etwa die Frage des Wertes des eigenen Lebens ist - es kommt mir vor, als wären sich nicht alle dieses Wertes bewusst.

Varve geht heute wieder zur Schule, rennt herum und spielt mit anderen Kindern. Sie ist Gott unendlich dankbar dafür, dass er ihr ein zweites Leben geschenkt hat. Auch allen Menschen, die Varve in ihrer schwierigen Zeit im Spital beistanden und die durch ihre finanzielle Unterstützung den Kauf der dringend benötigten Medikamente und den Aufenthalt auf einer Intensivstation in einem Privatspital ermöglicht haben, sagt Varve danke.