Als ich gestern zu schreiben begonnen hatte, setzte sich Jeb, einer unserer älteren Jungs, neben mich. Während ich mich auf den Bildschirm und das Schreiben konzentrierte, meinte er, beinahe beiläufig, dass sein kleiner Cousin krank sei. Ich hörte mit einem Ohr zu und fragte nach, was seinem Cousin den fehle. Jeb antwortete darauf: „Er kann seinen Mund nicht mehr öffnen Kuya Thom“. Jetzt hörte auch mein anderes Ohr zu, und ich fragte mit einer gewissen Unmut in meiner Stimme, ob sich sein Cousin noch bewegen könne und ob er Krampfattacken habe. Darauf antwortete Jeb mit: „Nein, nicht so sehr, sein ganzer Körper ist versteift und manchmal hat er Atemnot“. Sekunden später liefen Jeb und ich in Richtung Mülldeponie. Während wir mit schnellen Schritten über Berge von Abfall liefen, kamen in mir Erinnerungen an Roderick, einen Jungen, den wir im August 2010 im Spital unterstützt hatten, auf. Roderick war damals an einer Tetanusinfektion erkrankt und starb nach einer Woche Intensivstation (Newsletter August 2010). IKP hatte nach dem tragischen Tod von Roderick mit seinem Tetanusimpfprogram bei der Mülldeponie begonnen, wodurch unterdessen mehr als 300 Kinder und Jugendliche gegen Tetanus geimpft werden konnten.
Die Hütte der Familie Lagrosas befindet sich im hintersten Teil der Deponie, in einer kleinen Siedlung von etwa sechs Familien. Der fünfjährige Renante war, wie Jeb berichtet hatte, am ganzen Körper steif und konnte seinen Mund nicht mehr öffnen. Er wollte auch nichts mehr trinken, was auf eine Hydrophobie hinwies. Tetanus war bereits seit unserem Gespräch im Center in meinem Kopf, und diese Annahme wurde nun immer wahrscheinlicher. Ich fragte die Mutter, ob Renante kürzlich eine Fleischwunde gehabt habe und ob er jemals geimpft worden sei. Sie erklärte mir, dass ihr Sohn vor rund zwei Wochen einen grossen Holzsplitter im Fuss gehabt habe und er – wie auch der Rest der Familie - nie geimpft worden sei. Renante war bereits seit sechs Tagen krank, seine Muskelverkrampfungsanfälle häuften sich, und er hatte jetzt Atemschwierigkeiten, was die Situation zusätzlich erschwerte. Der Vater wollte ihn zu einem „Hilot“, einem traditionellen Masseur bringen, was noch zusätzlich Öl ins Feuer gegossen hätte. Ich erklärte der Familie, wie schlimm es kommen könnte und dass Renante auf dem schnellsten Weg ins Spital gebracht werden müsse. Pascal holte uns mit dem Pick-up beim Deponieeingang ab und danach ging es schleunigst ins Provincial Hospital (NMMC). Das Warten dort, ein einziger Nervenkitzel. Notfälle stehen Schlange, Patienten werden auf Matten am Boden mit durch die Angehörigen selbst betätigten Beatmungsbeuteln beatmet und die Ärzte tun, was sie können; sie behandeln zahlreiche Patienten gleichzeitig und müssen zahlreiche Notfälle lange warten lassen. Es geht zu und her wie in einem Bienenhaus und das Lärmniveau ist hoch. Wenn man lange genug im Notfall warten muss, sieht man manchmal einzelne - und manchmal auch mehrere Menschen - sterben. Oft sind Angehörige bereits seit einer Weile leise am Wimmern, geht das Wimmern dann in ein Weinen oder gar emotionales Schreien über, geht es nicht mehr lange, bis der Patient mit einem Tuch bedeckt nach draussen, in einen Abstellraum hinter dem Spital gebracht wird. Der Notfall hat keine Trennwände, alles ist live, hier wird einem schreienden Kind ein Katheter gesteckt, da stossen ein Arzt und eine Krankenschwester mit etwas Mühe den Knochen eines offenen Schienbeinbruchs ins Gewebe zurück, während Angehörige versuchen den sichtlich leidenden Patienten auf dem Bett zu fixieren, und etwas weiter drüben ist ein älterer, mit dem Beatmungsbeutel beatmeter Mann in seinen letzten Zügen. Die Ärzte und das Pflegepersonal brauchen hier starke Nerven.
No comments:
Post a Comment