Es gibt die, die von Anfang an da waren, jene die später dazu kamen, und es gibt die Besucher. Wer von Anfang an da war, kann sich erinnern, was war und weiss, was aus dem was früher war, wurde. Wer später dazukommt, blickt auf einen Teil der Geschichte zurück und sieht, was sich in diesem Zeitabschnitt verändert hat. Der Besucher jedoch sieht nur das, was sich aktuell seinen Augen offenbart. Als vor neulich der Volontär Pascal Minder in Cagayan eintraf, musste dieser gleich einen steilen Einstieg miterleben. Nachdem wir Pascal vom Flughafen abgeholt hatten, machten wir uns sogleich auf den Weg zum Madonna Hospital, wo ein von uns unterstütztes Kleinkind im Sterben lag. Noch vor unserem Eintreffen erhielten wir von der Ärztin die Nachricht, wonach die kleine Maricel soeben verstorben war. Wir hatten das 9 Monate junge Mädchen und seine Familie unterstützt und das Möglichste versucht, um ihr Leben zu retten. Maricel litt an TB-Meningitis. Der durchgeführte CT-Scan hatte zwei Tage zuvor gezeigt, dass ihr Gehirn bereits voller Wasser (Hydrozephalus) war und grössten Schaden erlitten hatte. Zusammen mit der Familie hatten wir darauf entschieden, keine Medikamente mehr zu besorgen, worauf mit dem baldigen Tod von Maricel zu rechnen gewesen war. Am Spitalbett bat ich Pascal mit seiner Digitalkamera ein Foto von Maricel zu machen - dieses benötigten wir für den Hilfeantrag beim Philippinischen Lotteriefonds, welchen wir bei kritischen Patienten stets um finanzielle Unterstützung bitten. Pascal meisterte diese Situation sehr gut, auch wenn er sich seinen Einstieg wohl etwas anders vorgestellt hatte. Die Familienmitglieder von Maricel sind völlig mittellos; sie leben als papierlose Bettler auf der Strasse und übernachten in einem zusammengebretterten Unterschlupf - keiner der Angehörigen hat Schulbildung, keines der Kinder wurde je registriert oder geimpft. Maricels Beerdigung wurde von IKP im einfachsten Rahmen organisiert. Herald, einer unserer Betreuer, fand auf dem Friedhof, unter freiem Himmel, im Sonnenschutz der Bäume, tröstende Worte für die Angehörigen. Vor der Bestattung sangen wir, mit einer Handvoll IKP-Kids, einheimische, christliche Lieder, wobei unsere Mitarbeiterin Jasmine und ich Gitarre spielten. Nach dem gemeinsamen Gebet liessen wir die anstrichlose Sperrholzkiste an Seilen die obligaten sechs Fuss in die Tiefe gleiten und begannen sie mit Erde zu bedecken. Es war ein strahlend schöner Morgen, und die Stimmung unter den Bäumen beim Friedhof war trotz des bedrückenden Ereignisses friedlich. Beim Bildungscenter hatten wir noch einen Sack Zement übrig, welchen ich später zusammen mit zwei unserer Jungs zum Grab brachte, wo wir daraus eine kleine Grabplatte mit Inschrift pflasterte.
Eine Woche vor Maricels Tod war bereits Rodel, ein Junge aus unserer Kindertagesstätte verstorben. Nachdem er in der Hütte seiner Familie drei Würmer erbrochen hatte, legte er sich hin und starb. Die Todesursache ist unklar und wird auch nie ermittelt werden – Rodel wurde am nächsten Tag bereits beigesetzt. Für uns war es einmal mehr ein schmerzlicher Verlust. Rodel gehörte zu unserer IKP-Familie und hatte seinen festen Platz in unseren Herzen. Tote Kinder sind in den Armenvierteln jedoch nichts Aussergewöhnliches, und dementsprechend ist wohl auch der Umgang mit ihrem Tod anders als etwa in Schweizer Breitengraden. Der Tod wird als natürlicher Bestandteil des Lebens akzeptiert; Sterben ist kein Tabu und man fragt nicht gross warum und wieso, sondern nimmt es scheinbar als selbstverständlich hin und lebt weiter. Auf der Rückfahrt vom Friedhof sagte Pascal auf einmal, „Es ist hier wie in Afrika“. Er führte weiter aus, dass er für einige Zeit in Namibia gewesen sei und ihn die hiesigen Zustände wieder an diese Zeit erinnerten. Ich konnte dazu nichts sagen, da ich selber weder in Namibia noch in anderen Afrikanischen Ländern gereist bin. Besucher erschrecken oft ab den Zuständen in unserem Viertel; der Gestank, der allgegenwärtige Dreck und Abfall, Kleinkinder mit Husten und laufenden Nasen, die von Kopf bis Fuss in Schmutz gekleidet in Pfützen neben brennenden Plastikhaufen spielen, betrunkene Männer bereits in den frühen Morgenstunden, Jugendliche, die an mit Klebstoff bestrichenen Plastiktüten schnüffeln, streunende Hunde voller blutiger Geschwüre, primitivste Hütten ohne Wasser und ohne Toiletten sowie der Anblick der in den Abfallbergen wühlenden Wertstoffsammler, hinterlassen bei vielen von ihnen bleibende Eindrücke. Besucher sehen aber eben nicht, was einmal war, sondern nur was gerade ist. Denn, obwohl noch vieles nicht ist, wie es sein sollte, hat sich in unserer Community dennoch vieles sehr positiv verändert. Die zahlreichen Kinder und Jugendlichen, die heute nicht mehr auf der Mülldeponie arbeiten sondern den Unterricht in unserem „Learningcenter“ besuchen, sind dabei nur ein Beispiel.