Über uns


In einer Welt voller Elend und Ungerechtigkeit soll eine Gemeinschaft entstehen, in der von der Gesellschaft längst fallengelassene Menschen Hoffnung und neuen Lebenssinn finden und in Harmonie zusammenleben können. Verstossene und verwaiste Kinder sollen in der Pflegefamilie Liebe, Fürsorge und Geborgenheit erfahren, eine Schule besuchen und sich ihren Fähigkeiten entsprechend entwickeln können. Suchtkranke, missbrauchte und misshandelte Kinder sollen erfolgreich rehabilitiert und wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden.


Island Kids Philippines setzt sich seit 2007 nachhaltig und mit Nächstenliebe für diese Vision sowie für schwerkranke Menschen aus ärmsten Verhältnissen ein. Als Initiant des Hilfswerkes will ich interessierten Menschen Einblick in unsere tägliche Arbeit und die damit verbundenen Probleme, Schicksalsschläge, Erfolge und Glücksmomente geben - ich will Sie an unserer Geschichte teilhaben lassen.




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Monday, February 28, 2011

Varve – ein Zeugnis



Varve Paraiso Mayake ist ein siebenjähriges Mädchen vom Hiligaynon Tribe. Varve lebt mit ihrer Familie in Indahag, einer kleinen Gemeinde auf einem Hochplateau bei der Stadt Cagayan de Oro. Varve lebt ein einfaches Leben. Ihre Familie ist arm, die Eltern kümmern sich jedoch liebevoll um ihre beiden Kinder, Varve und Jeby. Der Vater arbeitet bei jeder Gelegenheit als Tagelöhner in der Landwirtschaft oder als Hilfsarbeiter auf dem Bau. Wenn er Arbeit hat, verdient er im Durchschnitt PHP 150.- pro Tag, was rund CHF 3.- entspricht. Mit diesen drei Franken muss die Familie das Nötigste fürs tägliche Überleben besorgen; solange es keinen Notfall gibt, kommt die Familie so täglich über die Runden. Einziges Vermögen ist ein kleines Schwein, welches ausgewachsen einmal für allfällige Notfälle in der Familie hinhalten soll. Mayakes wohnen in einer kleinen, aus Brettern und Bambus selber zusammengebauten Hütte, welche sie an einem ungenutzten kleinen Hang errichtet  haben. Die meisten Nachbarn sind Verwandte. Sie alle sind land- und besitzlose Menschen, die weit unterhalb der Armutsgrenze leben. Trotz der schwierigen Situation in der Familie und dank dem Verantwortungsbewusstsein der Eltern, ist es Varve möglich, die öffentliche Schule zu besuchen - Varves Eltern konnten die Grundschule selber nie abschliessen. Varve ist eine gute und vor allem sehr fleissige Schülerin. Auch zuhause ist sie verantwortungsbewusst und kümmert sich liebevoll um ihren vierjährigen Bruder Jeby. In ihrer Freizeit besucht Varve am liebsten die Bibelstunde einer örtlichen christlichen Gemeinde. Sie kennt bereits zahlreiche Geschichten aus der Bibel. Manchmal versammelt sie die jüngeren Kinder in der Nachbarschaft und erzählt ihnen Bibelgeschichten. Varve ist für ihr Alter bereits sehr reif und verantwortungsbewusst. Ihre Angehörigen, Freunde, KlassenkameradInnen und LehrerInnen haben sie alle sehr lieb – Varve, die kleine Prinzessin von Indahag.


Es ist Montagmorgen, der 24. Januar 2011. Varve kann nicht mehr vom Bambusboden der Hütte aufstehen. Sie ist sehr müde, schlaff und klagt über Gliederschmerzen sowie Taubheit in den Extremitäten, vor allem in den Beinen. Auch beim Urinieren hat Varve jetzt Schmerzen. Das Mädchen hat zu diesem Zeitpunkt bereits seit sieben Tagen wiederkehrendes Fieber, Husten und seit drei Tagen auch noch den Mumps. Ihre Mutter Virginia hatte sie mit Hausmitteln gepflegt und ihr zudem Paracetamol gegen das Fieber gegeben. Jetzt bekommt es Virginia jedoch mit der Angst zu tun. Da es in Indahag keinen Arzt gibt,  beschliessen die Eltern, ihre Tochter in eines der beiden öffentlichen Spitäler in der Stadt zu bringen. Der Vater trägt Varve zur Strasse, wo sie auf das „Jeepney“ (öffentliches Verkehrsmittel) warten. Mit dem Jeepney geht es dann über eine holperige Steinstrasse hinunter in die Stadt. Nach zwei Fahrten mit dem Jeepney erreichen die Eltern um 13:00 Uhr das J.R Borja City Hospital in Cagayan de Oro. Varve wird untersucht, Blut und Urin werden analysiert. Ihr Zustand verschlechtert sich jetzt stündlich. Die Laboruntersuchungen ziehen sich hin, da das Spital völlig überlastet ist und die Familie Geld für die Laboruntersuchungen auftreiben muss. Der behandelnde Arzt kann an diesem Tag noch keine Diagnose stellen und verschreibt lediglich Paracetamol gegen das Fieber. Zwei Tage später, am Mittwoch, dem 25. Januar, kann sich Varve nicht mehr bewegen. Der Arzt verschreibt jetzt einen CT-Scan. Da es im City Hospital keine CT-Scan-Anlage gibt, begibt sich Varves Vater zum grösseren der beiden öffentlichen Spitäler der Stadt, dem Northern Mindanao Medical Center NMMC. Ein CT-Scan kostet dort PHP 4‘000.-. Die Familie hat zu diesem Zeitpunkt bereits sämtliche finanziellen Mittel, inklusive einem Kleinkredit zu Wucherzinsen, aufgebraucht - sie kann das dringend benötigte Geld für den CT-Scan auch nach der Reduktion auf PHP 2‘500.- durch die Spitalsozialarbeiterin nicht auftreiben. Varve schläft jetzt meistens und kann sich kaum noch bewegen. Um 12:00 Uhr mittags kann die Mutter Varve nicht mehr aufwecken. Sie ruft die Krankenschwester. Auch diese kann Varve selbst mit Schmerzreizen nicht mehr aufwecken. Das Mädchen atmet nur noch flach, hat kaum noch Puls und regt sich nicht mehr. Erst 20 Minuten später erscheint der herbeigerufene Arzt vor Ort und stellt fest, dass sich Varve bereits im Koma befindet. Sie wird mit Sauerstoff durch die Nase versorgt, auf eine Intubation wird jedoch vorerst verzichtet. Um 17:00 Uhr informiert der Arzt die Eltern, dass Varve an Tuberkulose-Meningitis leide, ihre Überlebenschancen mit weniger als 40% gering seien und sie im Falle des Überlebens aufgrund zu erwartender grosser Schädigungen am Gehirn ein Leben lang stark geistig behindert sein würde. Die Eltern sind nach dieser Botschaft zutiefst geschockt und demoralisiert. Am Freitag, dem 28. Januar, um 10:00 Uhr, setzt bei Varve die Atmung ganz aus. Jetzt erst, ganze 46 Stunden nachdem bei ihr die Bewusstlosigkeit festgestellt wurde, wird Varve intubiert und von da an durch die Familienmitglieder eigenhändig mit einem Beatmungsbeutel beatmet. Spätestens jetzt sollte sie dringend auf einer Intensivstation betreut und mit einer Beatmungsmaschine beatmet werden. Doch das Spital verfügt weder über das eine noch über das andere, und Varves Familie ist arm, sie kann sich einen Platz im Privatspital nicht leisten. Stunden und Tage vergehen, Varve bleibt im Koma und die Hoffnung bei den Angehörigen schwindet. Am Sonntag, dem 30. Januar, besuchen zwei Pastoren die Familie im Spital. Die Mutter erklärt die Situation ihrer Tochter und sagt, dass sie Varve nun nach Hause bringen würden, sodass das Mädchen im engsten Familienkreis sterben könne, die Spitalentlassungspapiere habe sie bereits unterschrieben. Der Vater  will Varve jedoch nicht nach Hause bringen, er hofft noch auf ein Wunder. Die Pastoren beten für Varve und ihre Familie und ermahnen die Eltern, Varve auf keinen Fall nach Hause zu bringen. Stattdessen müsse die Familie jetzt stark sein und für Varve beten, sodass Hilfe kommen möge. Die Eltern bleiben darauf im Spital und beatmen ihre Tochter weiterhin mit dem Beatmungsbeutel. Am Montag, dem 31. Januar 2010, begeben wir, die Kinderbetreuerin Jasmine Antipuesto, einige Kinder von Island Kids Philippines und ich, Thomas Kellenberger, uns in das City Hospital, um dort für ein Neugeborenes und dessen minderjährige Mutter (ehemaliges Patenkind von IKP) zu singen und zu beten. Als die Familie Mayake den Gesang aus dem Nachbarzimmer vernimmt, spricht sie Jasmine an. Jasmine kennt die Familie von früher her, da sie einmal die gleiche Glaubensgemeinschaft besuchten. Wir singen und beten für Varve und erfahren von der Familie was geschehen ist. Als ich danach sogleich mit dem behandelnden Arzt spreche, muss dieser eingestehen, dass das City Hospital nicht über die nötigen Einrichtungen verfügt, um Varve behandeln zu können. Ich erfahre, dass Varve seit Tagen mit dem Beatmungsbeutel beatmet wird und bei ihr kein CT-Scan durchgeführt werden konnte. Der Arzt macht mir wenig Hoffnung, seine Prognose ist mehr als nur entmutigend. Zurück am Bett von Varve mache ich jedoch eine merkwürdige Erfahrung. Ich betrachte das regungslose Mädchen und weiss, dass es für sie medizinisch kaum noch Hoffnung gibt. Selbst wenn wir sie jetzt auf die Intensivstation des besten Privatspitals der Stadt verlegen würden, hätte sie bestenfalls Chancen als Schwerstbehinderte das Spital wieder zu verlassen. TB-Meningitis tötet jährlich zahlreiche Kinder auf den Philippinen. Jene, die die Krankheit überleben, haben grosse Hirnschäden und können weder sprechen noch gehen; sie liegen im Bett und sind total von der Betreuung der Angehörigen abhängig. Es bringt doch nichts, man muss realistisch bleiben. Es ist nicht das erste Kind, das ich sterben sehe. Man muss den Tod als Bestandteil des Lebens akzeptieren können. Als mir all diese Gedanken durch den Kopf gehen, verspüre ich plötzlich eine grosse Liebe für Varve. Jetzt blitzen in mir Gedanken wie, „Liebe gibt niemals auf!“,  „das Leben eines Menschen ist mehr wert als alles Geld und alle Reichtümer der Welt!“, „warum soll ein armes Kind nicht die gleichen Chancen haben wie ein reiches?“. Ich denke nicht mehr rational, sondern jenseits menschlicher Logik. „Es ist nie zu spät!“, „ Varve lebt noch und kann geheilt werden!“, „Mit Gottes Hilfe ist alles möglich!“, - denke ich nun laut.  Ich frage den Arzt, „ wenn dies ihre Tochter wäre, was würden Sie tun?“. Er gibt mir zur Antwort, dass hier nichts mehr für sie getan werden kann und Varve dringend auf eine Intensivstation verlegt werden muss, da sie sonst innerhalb der nächsten Stunden sterben wird. Ohne weiter zu überlegen, biete ich der Familie an, ihre Tochter auf die Intensivstation eines anderen Spitals zu verlegen, da dies ihre einzige Überlebenschance ist. Die Familie nimmt dieses Angebot sofort an und hegt wieder ein wenig Hoffnung. Die Suche nach einer Intensivstation gestaltet sich schwierig. Im NMMC, dem grösseren staatlichen Spital, sind alle Intensivplätze besetzt, und auf der Warteliste stehen bereits die Namen von 14 Patienten. Selbst in den meisten Privatspitälern sind alle Intensivplätze belegt, da zurzeit zahlreiche Patienten an Denguefieber leiden. Andere Spitäler wollen Varve nicht annehmen, da sie keinen Isolationsraum zur Verfügung haben und sie Varve mit der Diagnose TB-Meningitis nicht in einer offenen Intensivstation aufnehmen können. Nach Mitternacht werden wir endlich fündig; das CUMC Capitol University Medical City, eines der besten Spitäler der Stadt, hat einen Platz für Varve. Die einzige Ärztin für pedia critical care in Cagayan de Oro erklärt sich dazu bereit, Varve als ihre Patientin anzunehmen. Mit dem Krankenwagen wird Varve zirka eine Stunde später – der einzige Krankenwagen ist noch damit beschäftigt Ärzte nach Hause zu bringen - ins CUMC verlegt. Doktor Agnes Ann untersucht Varve in der Notaufnahme. Als die Spezialistin danach mit uns spricht, bin ich den Tränen nahe. Varves Zustand ist sehr schlecht und gestützt auf die Diagnose der Ärzte im öffentlichen Spital  sowie den aktuellen Zustand räumt auch Doktor Agnes Varve kaum Überlebenschancen ein. Auch sie sagt, dass das Gehirn von Varve vermutlich bereits grossen Schaden genommen habe und das Mädchen im Falle des Überlebens stark behindert sein würde. Wortwörtlich sagt die Ärztin, dass Varve wie ein Gemüse vegetieren werde. Alle sind still nach dieser Information, die Hoffnung in den Augen der Eltern schwindet umgehend und die Grossmutter sagt schliesslich, „es wäre besser gewesen, Varve nach Hause zu bringen“. Für einen kurzen Moment geht mir dieser Gedanke auch durch den Kopf, doch dann will ich wieder kämpfen, nicht aufgeben, auf Gott vertrauen und um das Leben von Varve beten. Wir motivieren die Eltern, sagen ihnen, dass sie jetzt stark sein und ganz auf Gott vertrauen müssen. Der CT-Scan ist für den nächsten Morgen angesagt, und noch kann niemand genau sagen, ob und wie stark das Gehirn von Varve Schaden genommen hat. Ich stehe am Bett von Varve, die regungslos, mit einem Schlauch im Mund und einem sich im Takt mit dem Lärm der Beatmungsmaschine hebenden und senkenden Brustkasten, daliegt. Modernste Apparate messen hier Herzfrequenz und Sauerstoffgehalt im Blut. Die Beatmungsmaschine arbeitet exakt und Varve wird rund um die Uhr von professionellem Personal überwacht. Aber wie sieht es in ihrem Gehirn aus, wird sie je wieder gehen können, sprechen können, die Schule besuchen, mit Freunden spielen und lächeln können oder ist sie bereits hirntot und wird für ihre Familie gar zu einer Belastung werden? Nein, dies kann ich nicht akzeptieren. Wir müssen positiv denken, müssen kämpfen und fest an eine Heilung glauben – Liebe gibt niemals auf. Ich bete ein langes Gebet am Bett von Varve, ihr Leben ist mir auf einmal das Wichtigste auf der Welt. Ich flehe, bitte um Vergebung, will alles für ihr kostbares Leben geben und bitte Gott, dass er uns Varve, die ich nicht einmal kenne, nicht wegnehmen und sie stattdessen ganzheitlich heilen solle. Die Eltern und Virgie beten ebenfalls, ein ganz spezielles Gefühl erfüllt den Raum; nicht Hilfslosigkeit sondern ein fester Glaube und Gottvertrauen sind jetzt die Pfeiler, auf denen wir stehen. Medizinisch wird nun alles Menschenmögliche für Varve getan. Für die Mayakes und uns heisst es jetzt positiv denken und ganz auf Gott vertrauen.


Als bei Varve am nächsten Morgen ein CT-Scan durchgeführt wird, stehen ihre Eltern und ich beim Eingang des Behandlungsraumes. Die Tür ist zu einem Spalt geöffnet, sodass wir die Röhre der grossen Anlage sehen können. Varve wird auf einer Bahre langsam hineingeschoben, als der Arzt auf einmal erstaunt sagt: „Sie öffnet ihre Augen!“. Varve erwacht für kurze Zeit aus dem Koma, was uns alle in grosse Aufregung versetzt und uns Mut gibt. Als sie bald darauf wieder bewusstlos ist, blicken wir gespannt über die Schultern des Neurologen, auf den Monitor der CT-Scan-Anlage. Das Resultat der Untersuchung zeigt, dass am Gehirn von Varve keine sichtbaren Schäden entstanden sind. Es bestehen keinerlei Anzeichen für eine TB-Meningitis und auch der in solchen Fällen stets vorhandene Hydrocephalus (Wasser im Gehirn) ist nicht vorhanden. Unsere Hoffnung steigt, und wir sind erfüllt von Dankbarkeit für die positiven Ereignisse der vergangenen Stunden. Die Untersuchungen dauern den ganzen Tag an. Am Abend ist klar, es ist keine TB-Meningitis sondern GBS (Guillain-Barré-Syndrom). Varves Zustand ist jedoch nachwievor kritisch, denn zur Autoimmunerkrankung GBS kommen nun noch eine schwere bilaterale Lungenentzündung, ein Pneumothorax infolge der falschen Beatmung mit dem Beatmungsbeutel sowie diverse Herzprobleme hinzu. Die behandelnde Ärztin macht uns deshalb auch keine Hoffnungen, sondern betont, dass Varve auch jetzt noch jederzeit sterben könne. Einziger Hoffnungsschimmer ist also, dass Varve, sollte sie einmal wieder gesund werden, vielleicht keine Hirnschäden haben wird. Aber auch diesbezüglich ist sich die hinzugezogene Neurologin nicht sicher, da Varve bereits kurz nach dem Öffnen ihrer Augen im CT-Scan wieder ins Koma gefallen ist und man nicht weiss, ob und welche Schäden die vier Tage Beatmung mittels Beatmungsbeutel an ihrem Gehirn angerichtet haben.


Während vier Wochen besuche ich Varve und ihre Familie tagtäglich, manchmal gar zweimal am Tag. Wir helfen beim Besorgen der teuren Medikamente, sprechen mit den Ärzten, helfen beim Verfassen von Bettelbriefen an den City Mayor (Stadtpräsidenten) und den Congressman (politischer Vertreter der Provinz), helfen beim Einreichen eines Unterstützungsantrages beim Philippinischen Lotteriefonds und ermutigen die Eltern täglich beim Kampf um das Leben ihrer Tochter. Diese Zeit wird zu einer langen und nervenzerreissenden Geduldsprobe, in der wir, zusammen mit der Familie, täglich mehrmals für das Leben von Varve beten und dabei ganz auf Gott vertrauten. Es kommt zu zahlreichen schwierigen und sehr emotionalen Perioden, in denen es oft zu Tränen der Verzweiflung aber auch zu Tränen der Freude kommt. Sieben Spezialisten sind schliesslich daran beteiligt, das Leben von Varve möglichst zu erhalten. Wir erleben bange Momente und schlaflose Nächte, etwa dann, wenn der Blutdruck zusammenzubrechen droht, das Herz Störungen hat oder zu wenig Sauerstoff im Blut ist. Als Varve nach beinahe einer Woche im ICU erneut aus dem Koma erwacht, ist dies für uns alle ein unbeschreibliches Gefühl. Von da an macht sie jeden Tag kleine Fortschritte; am nächsten Tag kann sie die Finger ihrer Hand öffnen und wieder schliessen, tags darauf hebt sie den Arm ein wenig an, und ein paar Tage später kann sie ihre Füsse wieder bewegen. Ihre Eltern massieren liebevoll und stundenlang ihre Füsse, kratzten ihr die beissenden Stellen am Kopf und waschen die wundgelegenen Körperstellen. Eine grosse Erleichterung tritt ein, als man Varve nach der zweiten Woche Intensivstation einen Luftröhrenschnitt macht und den Schlauch der Beatmungsmaschine von da an am Hals fixiert. Jetzt kann Varve sogar wieder sprechen, und die wunden Stellen in ihrem Mund und im Rachen können heilen. Manchmal bringen wir abends unsere Gitarren zu Varve ans Bett und singen zusammen mit den Eltern für sie. Ich bringe jeweils eine Kinderbibel auf Cebuano (gesprochener Dialekt) mit mir und lese ihr daraus aufbauende Geschichten vor. Als ich das Buch einmal vergesse, will Varve trotzdem eine Geschichte hören, sodass ich spontan zu erzählen beginne. Nach diesem Abend will Varve nur noch freierzählte Geschichten hören, was zu einer echten Herausforderung wird. Während der Zeit im Spital entsteht zwischen uns und der Familie von Varve eine auf Nächstenliebe basierende, innige Freundschaft, die dauerhaft werden soll.


 
Während ihrem Aufenthalt im Spital erzähle ich den Kindern in unserem „Agora-Outreach“ (Programm mit Essensabgabe an Strassenkinder, jeden Samstag) die Geschichte von Varve, die zu diesem Zeitpunkt noch im Koma ist. Die Kinder malen darauf Zeichnungen oder schreiben Briefe für sie, die ich dann am Abend ins Spital bringe und ihr vorlese. Da das Thema die Kinder an diesem Samstag sichtlich bewegt, bereite ich für den darauffolgenden Samstag folgenden Text auf Cebuano vor:


ANG BILI SA KINABUHI / WERT DES LEBENS

“Ang Atong halangdon nga Kinabuhi mas importante kesa sa tanan kwarta og tanan kadato sa Kalibotan; kay ang GINOO wala nagbuhat sa kwarta apan gibuhat nia kitang tao sama sa iyang panagway. Kita tanan gwapa og gwapo nga mga anak sa GINOO.“

Unsere wertvollen Leben sind mehr wert als alles Geld und alle Reichtümer der Welt; den Gott hat nicht das Geld geschaffen, sondern er hat uns Menschen geschaffen, nach seinem Ebenbild. Wir sind alle wunderschöne Kinder Gottes.

 
Ich merke, wie solche aus dem Leben gegriffene Themen die Kinder und Jugendlichen bewegen und wie wichtig für sie etwa die Frage des Wertes des eigenen Lebens ist - es kommt mir vor, als wären sich nicht alle dieses Wertes bewusst.

Varve geht heute wieder zur Schule, rennt herum und spielt mit anderen Kindern. Sie ist Gott unendlich dankbar dafür, dass er ihr ein zweites Leben geschenkt hat. Auch allen Menschen, die Varve in ihrer schwierigen Zeit im Spital beistanden und die durch ihre finanzielle Unterstützung den Kauf der dringend benötigten Medikamente und den Aufenthalt auf einer Intensivstation in einem Privatspital ermöglicht haben, sagt Varve danke.